Midori spielt Geige auf der Bühne © picture alliance / dpa | Paolo Aguilar Foto: Paolo Aguilar

Brahms-Preis: Midori für Lebenswerk geehrt

Stand: 19.08.2022 13:32 Uhr

Bei einem Konzert in Wesselburen wird die japanische Geigerin für ihr künstlerisches und humanitäres Lebenswerk geehrt. Ein ganz persönliches Porträt.

Meine jüngste Begegnung mit Midori ist mit einer Schrecksekunde verbunden - gefühlt allerdings einer ganzen Schreckensstunde! Es war im Februar 2022. Midori sollte zusammen mit der NDR Radiophilharmonie Beethovens Violinkonzert spielen, und NDR Kultur würde das Konzert live übertragen. In der ersten Hälfte stand eine Schostakowitsch-Sinfonie auf dem Programm; das Orchester saß schon spielbereit auf der Bühne, und während die Nachrichten liefen, ging ich noch einmal meine Stichworte für die Anmoderation durch.

Aus der Moderationskabine im Großen Sendesaal hat man allerdings keinen direkten Blick auf die Bühne, sondern ist auf Kameras angewiesen. Und auf einmal zeigte mir der Monitor hinter den Kulissen eine schmale, schwarzhaarige Gestalt im Abendkleid mit einer Geige unter dem Arm! Panik, Schnappatmung: Beginnt das Konzert etwa doch mit Beethoven, und ich habe es nicht mitbekommen?! Was sage ich dann zum Einstieg?? Aber dann kam die Entwarnung vom Orchesterwart: Midori spielte sich nur ein bisschen ein und würde sich dann bis zu ihrem Auftritt wieder ins Künstlerzimmer zurückziehen. Was für ein Glück - ich hätte sonst Midoris Beethoven wahrscheinlich nicht mehr so recht genießen können, und er war wieder großartig!

Midori und ihr vielfältiges Engagement

Ich bin schon seit Jahrzehnten ein Fan der japanischen Geigerin, und während die Zeit keineswegs spurlos an mir vorübergegangen ist, scheint Midori ewig jung zu bleiben. Wie macht sie das? Tägliche Meditationsübungen? Streng vegetarische Ernährung? Jede Nacht mindestens acht Stunden Schlaf?

Zumindest daran kann es nicht liegen, denn Midori übt nach eigener Aussage "die ganze Zeit: vor Konzerten, nach Konzerten, vor den Unterrichtsstunden und danach". Und neben ihrer erfolgreichen Musikerinnenkarriere engagiert sie sich auch noch auf vielen anderen Gebieten, als Pädagogin und als Philanthropin.

Üben, üben, üben und an die Mutter denken

Mit kaum mehr als dreißig Jahren brachte Midori bereits ihre Autobiografie heraus: "Einfach Midori". Ein bezeichnender Titel: zugleich selbstbewusst, unprätentiös und sehnsuchtsvoll. Denn im Leben dieser Musikerin war kaum etwas einfach. Mit zwei Jahren hielt sie ihr erstes Instrument in den Händen, bald darauf gab es erste Unterrichtsstunden von der Mutter, selbst Geigerin. Als Neunjährige nahm Midori an einem Sommerkurs der renommierten Aspen Music Festival and School teil, bereits ein Jahr später erhielt sie ein Stipendium für die New Yorker Juillard School.

Üben, Unterricht, vorspielen und noch mehr üben. Schon dem kleinen Mädchen wurde Perfektion als höchstes Ziel eingehämmert. Ein Lob von der ehrgeizigen Mutter gab es so gut wie nie; in einem Wutanfall zerschlug sie sogar einmal Midoris Geige.

Hin- und hergerissen zwischen Liebe, Pflicht- und Schuldgefühlen

Doch als die beiden nach New York zogen, ohne Englischkenntnisse und fast ohne Einkommen, war es auch die Mutter, die Midori auf ihrem Weg nach oben begleitete, sie in allen Angelegenheiten unterstützte und Mäzene und Sponsoren anwarb. Vater Gotō, der die Musikerlaufbahn für seine Tochter ablehnte, blieb zuhause in Japan und reiste erst zu ihrem New York-Debüt 1982 an. Während eines heftigen Streits zwischen den Eltern, so ist es in der Autobiografie zu lesen, hätte der verzweifelte Mann Frau und Tochter beinahe mit einem Küchenesser erstochen. Kurz darauf folgte die Scheidung, und der Kontakt brach für viele Jahre ab.

Kein Wunder, dass sich das junge Mädchen hin- und hergerissen fühlte, zwischen Liebe, Pflicht- und Schuldgefühlen, anerzogener Disziplin und eigenem Anspruch; sie spricht von ihrem "inneren Aufpasser". Gleichzeitig kletterte sie immer weiter hoch auf der Erfolgsleiter: Sie debütierte beim Silvesterkonzert der New Yorker Philharmoniker und sorgte für Schlagzeilen, als sie während eines Konzerts unter Leitung von Leonard Bernstein zweimal wegen einer gerissenen Saite geistesgegenwärtig ihr Instrument gegen das des Konzertmeisters austauschte. Ihre erste geliehene Guarneri durfte sie mit 13 spielen; heute ist es die Guarneri "ex-Huberman" von 1734.

Zusammenbruch und Neuanfang

Doch dann kam die Krise. Schon als ihre Mutter ein neues Verhältnis mit einem verheirateten Mann einging, nahm Midori psychotherapeutische Hilfe in Anspruch. Mit Anfang zwanzig war sie trotzdem depressiv, magersüchtig und medikamentenabhängig.Sie konnte dem ständigen Druck und der Angst vor dem eigenen Versagen nicht mehr standhalten. Fünf Jahre lang zog sie sich weitgehend aus dem Konzertleben zurück, begab sich mehrmals in stationäre Behandlung und entdeckte die Welt der Kammermusik für sich. Doch es war nicht die Musik, die Midori rettete, sondern ein Psychologiestudium, das sie - natürlich - mit Auszeichnung abschloss.

"Ich glaube, es ist sehr wichtig, dass Musiker ihren Horizont erweitern und sich auch mit anderen Dingen beschäftigen", sagte sie in einem Interview zur anstehenden Brahms-Preis-Verleihung. "Mir hat das Studium der Psychologie den Horizont wirklich geöffnet und geholfen, mich besser zu organisieren: meine Zeit, meine Gedanken und Ideen." Inzwischen sitzt Midori - nach dem Familienstreit legte sie endgültig ihren Nachnamen Gotō ab und blieb "einfach Midori" - längst wieder fest im Sattel. Als Musikerin sowieso.

Menschen über die Musik miteinander in Verbindung bringen

Sie gehört zu den weltweit führenden Geigensolistinnen, hat über zwanzig CDs veröffentlicht und ist mit mehreren Preisen und Ehrungen bedacht worden. 2023 feiert sie ihr 40-jähriges Bühnenjubiläum. Aber sie hat auch das Thema Musikpädagogik zu ihrer Herzensangelegenheit gemacht. Denn wer könnte besser eigene Erfahrungen ins Positive wenden als jemand mit ihrer Geschichte. Gleichzeitig bekundet sie ihrer Mutter immer wieder Respekt und Dankbarkeit und gibt von ihr Gelerntes an ihre Schülerinnen und Schüler weiter.

Midori ist Professorin an der Thornton School of Music an der University of Southern California und ist sie Dozentin am Curtis Institute of Music in Philadelphia, außerdem gibt sie weltweit Meisterkurse. Doch die sorgfältige Ausbildung von Hochbegabten ist das Eine. Für genauso wichtig hält Midori die Musikerziehung in der Breite. Sie möchte Kinder aus aller Welt und mit allen Hintergründen an die Musik heranzuführen. 1992 gründete sie in New York ihre erste Stiftung "Midori & Friends", die einkommenschwachen Kindern kostenlosen Musikunterricht anbietet und bisher rund 300.000 Schüler erreicht hat.

Midori wünscht sich den Menschen etwas zurückgeben

In Japan wendet sich ihre Organisation "Music Sharing" mit Kursen in Schulen, Jugendeinrichtungen und Krankenhäusern an Kinder und Jugendliche, die an klassischer oder an traditioneller japanischer Musik interessiert sind. Beim "University Residencies Program" in den USA bringt Midori Studenten, Künstler und Veranstalter in Kontakt. "Total Experience" verfolgt in verschiedenen japanischen Kleinstädten das Ziel, das Publikum aktiv mit in das Konzertgeschehen einzubeziehen. Während der Corona-Pandemie erarbeitete sie virtuelle Programme für diese Organisationen und kurze Animationsfilme für Kinder.

Natürlich nimmt auch Midori an Konzerten für die Ukraine teil. Auf ihrer Website schreibt sie: "Ich schließe mich meinen Freunden und Kollegen in der internationalen Gemeinschaft an und verurteile diesen extremen Akt menschlicher Gier, Aggression und Zerstörung und fordere einen sofortigen Waffenstillstand." Und es ist ihr Wunsch, den Menschen etwas zurückgeben, die während der Krise unermüdlich geholfen haben, das Leid zu lindern.

Brahms-Preis-Verleihung mit zweijähriger Verspätung

Der mit 10.000 Euro dotierte Brahms-Preis der Brahms-Gesellschaft Schleswig-Holstein wurde Midori bereits 2020 zugesprochen. Nun erhält sie ihn wegen der Corona-Pandemie mit zweijähriger Verspätung. Sie wird, so heißt es in der Begründung der Jury, geehrt für ihre weltweit gefeierten Interpretationen der Werke von Johannes Brahms sowie für die große Unterstützung der nachwachsenden Künstler-Generation und den besonderen Einsatz im Geiste der Humanität für kulturfördernde Projekte, nicht zuletzt als UN-Friedensbotschafterin.

Beim Preisträgerkonzert in der St. Bartholomäus-Kirche Wesselburen wird Midori überwiegend Solo-Werke von Bach spielen. Die Brahms-Gesellschaft Schleswig-Holstein wurde 1987 von Justus Frantz und Sir Yehudi Menuhin in Heide gegründet, der Stadt von Brahms' Vorfahren. Erster Träger des Brahms-Preises war der Dirigent und Pianist Leonard Bernstein mit den Wiener Philharmonikern. Seitdem ging die Ehrung unter anderem an den Bariton Dietrich Fischer-Dieskau, die Klarinettistin Sabine Meyer, den Thomanerchor und den Cellisten Pieter Wispelwey.

 

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Dieses Thema im Programm:

NDR Kultur | Klassikboulevard | 20.08.2022 | 14:20 Uhr

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