Das Kraftwerk der einstigen Heeresversuchsanstalt Peenemünde im Sonnenuntergang. © picture alliance/dpa Foto: Stefan Sauer

Kraftwerk Peenemünde: Wandel zum Ort der Kultur und des Friedens

Stand: 20.05.2022 10:33 Uhr

Das New York Philharmonic gastiert derzeit an einem geschichtsträchtigen Ort: dem Kraftwerk der früheren NS-Heeresversuchsanstalt Peenemünde. Das Usedomer Musikfestival feiert 20 Jahre Peenemünder Konzerte.

von Siv Stippekohl

Die exklusive Europa-Residenz des weltberühmten Orchesters mit Solisten-Stars wie Jan Lisiecki, Anne-Sophie Mutter oder Thomas Hampson markiert 20 Jahre Peenemünder Konzerte: aktueller denn je angesichts des Krieges in der Ukraine.

Symbolisch ist seit 20 Jahren das Programm der Peenemünder Konzerte: Versöhnung und Völkerverständigung durch die verbindende Kraft der Musik. "Die Peenemünder Konzerte gedenken der Opfer von Krieg und Gewaltherrschaft. Sie gedenken der vielen Menschen, die hier ihr Leben ließen. Und gerade hier wollen wir mit dem Usedomer Musikfestival vor allem Eines: Erinnern und einen Ort des Schreckens in einen Ort der Kultur und des Friedens verwandeln", so formuliert es Festivalintendant Thomas Hummel, der zehn Jahre lang auf den Auftritt des namhaften Orchesters aus dem großen New York im kleinen Peenemünde auf der Insel Usedom hin gearbeitet und zäh verhandelt hat.

"New York Philharmonic erfüllt NS-Raketenfabrik mit Klängen"

"New York Philharmonic erfüllt Nazi-Raketenfabrik mit Klängen jüdischer, US-amerikanischer, mittel- und osteuropäischer Komponisten", heißt es in einer Pressemitteilung zur Residenz des New York Philharmonic in Peenemünde. Symbolisch auch die Replik der US-amerikanischen Freiheitsstatue, mit der für die exklusiven Konzerte geworben wurde. Ebenso symbolisch und klar politisch die Videogrußbotschaft der US-Botschafterin in Deutschland, Amy Gutmann, in der sie von der "immer stärker werdenden Partnerschaft zwischen Deutschland und den Vereinigten Staaten" spricht.

Anne-Sophie Mutter und Thomas Hampson treten in Peenemünde auf

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Anne-Sophie Mutter auf der Bühne © picture alliance/dpa | Jens Büttner Foto: Jens Büttner

Emotionaler Auftritt von Anne-Sophie Mutter auf Usedom

Mit der Violinistin und dem New York Philharmonics war das Auftaktwochenende beim Usedomer Musikfestival hochkarätig besetzt. mehr

Auch die Violinistin Anne-Sophie Mutter sieht "ein starkes Zeichen für die deutsch-amerikanische Verständigung". Der Bariton Thomas Hampson, der wie Mutter einst Artist-in-Residence des traditionsreichen Orchesters war, erklärt: "Für mich als Amerikaner, der einen Großteil seines Lebens in Europa und Deutschland verbracht hat, ist es besonders bedeutsam, weil diese Art des Brückenschlags zwischen Amerika und Deutschland mein ganzes Leben bereichert und vertieft hat." Dabei konnte vor kurzem noch niemand ahnen, wie sehr sich in wenigen Wochen die geopolitische Situation verändern würde, wie aktuell die Konzerte angesichts des Krieges in der Ukraine werden könnten.

Werbung für Mecklenburg-Vorpommern

Der Begriff der "Brückentechnologie" für Erdgas, zu großen Teilen aus Russland zur Sicherung der Energieversorgung importiert, wird ebenso neu bewertet wie das gestoppte Pipeline-Projekt Nordstream 2, das zu einer Belastung für das deutsch-amerikanische Verhältnis wurde und US-Sanktionen gegen deutsche Unternehmen nach sich zog. Dabei sollte die Residenz der New York Philharmonic ursprünglich vor allem für Mecklenburg-Vorpommern werben und wird vom Land und dem Tourismusverband aus Mitteln der Europäischen Union gefördert.

Ungeahnte Aktualität durch Krieg in Ukraine

"Dies ist eine Zeit, in der wir alle das Gefühl haben, dass wir am Rande eines uralten Krieges stehen, den wir noch vor ein paar Jahren, vielleicht sogar noch vor ein paar Monaten für unmöglich hielten. Daher glaube ich, dass unser Besuch jetzt eine noch tiefere Bedeutung hat", erklärte der niederländische Chefdirigent Jaap van Zweden der Jüdischen Nachrichtenagentur JNS (Jewish News Syndicate) zur exklusiven Residenz in Norddeutschland. Derlei Pathos gehört zum Programm der Peenemünder Konzerte, seit sie 2002 erstmals international für Aufmerksamkeit sorgten - gewiss unter anderen historischen Vorzeichen, doch stets dem Gedanken der Völkerverständigung verpflichtet.

Das hat vor allem mit dem Konzertort zu tun: der Turbinenhalle im Kraftwerk auf dem Gelände der früheren NS-Heeresversuchsanstalt, heute Historisch-Technisches Museum. Hier entwickelten Wissenschaftler um Wernher von Braun Raketen als Vernichtungswaffen, eine Technologie, die ihn später zu einem Wegbereiter des US-amerikanischen Weltraumprogramms werden ließ.

Jan Lisiecki: "Einer der unglaublichsten Konzertorte"

"Das Kraftwerk Peenmünde ist sicherlich einer der unglaublichsten Orte für Konzerte, an denen ich je gewesen bin", bekannte der junge Ausnahme-Pianist Jan Lisiecki, dessen Eltern 1988 aus Polen nach Kanada auswanderten, wo er 1995 geboren wurde. 2016 gab Liesiecki in Peenemünde zusammen mit dem NDR Elbphilharmonie Orchester unter der Leitung von Thomas Hengelbrock in Peenemünde das Abschlusskonzert des Usedomer Musikfestivals, bereits zuvor hatte er in der Turbinenhalle Auftritte absolviert. "Die meisten, denen ich davon erzählt habe, würden lieber einmal nach Peenemünde kommen, als an irgend einen anderen international bekannten Konzertort."

Mstislaw Rostropovich dirigiert 2002 Brittens "War Requiem"

Ein Mann im Anzug dirigiert ein Orchester. © picture-alliance / ZB Foto: Jens Büttner
Der russische Musiker Mstislav Rostropovich dirigiert am 28.09.2002 während der Generalprobe für das Gedenkkonzert für die Opfer von Krieg und Gewaltherrschaft das "War Requiem" von Benjamin Britten in der Turbinenhalle auf dem Gelände der ehemaligen Heeresversuchsanstalt in Peenemünde.

Die Karriere des Kraftwerks als Konzerthalle begann am 28. September 2002. In Hitlers einstigem Raketenzentrum dirigiert damals der russische Cellist und Dirigent Mstislaw Rostropovich das "War Requiem" von Benjamin Britten, mit dem er befreundet war. Die Messe war 1962 anlässlich der Einweihung der wieder errichteten Kathedrale von Coventry uraufgeführt worden, die 1942 bei deutschen Luftangriffen auf England zerstört worden war. 2002 spielen bei dem viel beachteten Konzert an dem historischen Ort auf Usedom 350 Musiker in der Turbinenhalle der früheren Heeresversuchsanstalt Britten's "War Requiem": Das NDR Sinfonieorchester (heute NDR Elbphilharmonie Orchester), die NDR Radiophilharmonie, der NDR Chor, die BBC Singers sowie der Hamburger Knabenchor und der Knabenchor von Coventry geben ein eindrucksvolles und vor allem symbolträchtiges Konzert.

Prominente Gäste: Michail Gorbatschow und Johannes Rau

Zwei ältere herren lächeln in die Kamera. © picture-alliance / dpa Foto: Jens Büttner
Bundespräsident Johannes Rau (r.) und der frühere sowjetische Präsident Michail Gorbatschow lachen am 28.9.2002 in die Turbinenhalle in Peenemünde in die Kamera.

Prominente Gäste in Peenemünde sind damals Michail Gorbatschow und Bundespräsident Johannes Rau. Es ist der Auftakt alljährlicher Friedenskonzerte in der Turbinenhalle des Kraftwerks, unterstützt durch den NDR. In den Jahren danach dirigieren hier unter anderen Kurt Masur, Krzysztof Penderecki, Esa-Pekka Salonen, Alan Gilbert, Neeme und Paavo Järvi. Kristjan Järvi leitet das Baltic Sea Philharmonic. Seit seiner Gründung 2008 spielt das Orchester mit jungen Musikern aus allen Ostseeanrainerstaaten jedes Jahr im Kraftwerk auf. Das Historisch-Technische Zentrum Peenemünde ist so etwas wie das das "Zuhause" des Orchesters, das von der Nordstream 2 AG mit initiiert wurde. Ende März gab das Usedomer Musikfestival bekannt, dass die Zusammenarbeit mit Nordstream 2 als Hauptsponsor beendet sei. Nun treten die Musiker gemeinsam mit den New York Philharmonic in Peenemünde auf.

Nagelkreuz aus Coventry als Symbol der Versöhnung

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Bombenabwurf der Royal Air Force über dem Deutschen Reich während des Zweiten Weltkriegs. © picture-alliance

"Operation Hydra": Bomben auf Hitlers Raketenschmiede

In der Nacht vom 17. auf den 18. August 1943 greifen Briten die Konstruktionsstätten der "V2"-Rakete in Peenemünde an. Viele Zwangsarbeiter sterben. mehr

Anlässlich des ersten Peenemünder Konzerts 2002 kam ein Nagelkreuz aus Coventry nach Usedom. Es besteht aus Zimmermannsnägeln der zerstörten Kathedrale von Coventry. Nagelkreuzgemeinschaften verleihen die Kreuze weltweit an Orte, die besondere Friedensarbeit leisten. Ein Nagelkreuz als Symbol völkerweiter Versöhnung kam auch nach Karlshagen, wo die Kirche bei einem Bombenangriff der Alliierten 1943 zerstört wurde 2.000 Menschen starben bei dem Angriff, der die Heeresversuchsanstalt der Nazis treffen sollte: Wissenschaftler des Wunderwaffenlabors der Nazis, aber auch Zivilisten und Zwangsarbeiter.

Die in Peenemünde von Wissenschaftlern um Wernher von Braun entwickelten und produzierten Vernichtungswaffen trafen Städte in England, Belgien und Frankreich. Allein in London starben 3.000 Menschen. Und: die Produktion der Raketen V1 und V2 kostete rund 15.000 Zwangsarbeiter das Leben, auf Usedom in Peenmünde, Karlshagen und Trassenheide,  vor allem aber in den unterirdischen Produktionsanlagen im Stollen des KZ-Außenlagers von Buchenwald Mittalbau-Dora im Harz bei Nordhausen.

KZ-Überlebender starb in Ukraine

Die Zwangsarbeit an der Waffe überlebt hat Boris Romantschenkow. Als 17-Jähriger kam er als Häftling 1943 nach Peenemünde, als die Serienproduktion von Raketen auf Usedom begann. Er überlebte Peenemünde, Mittelbau-Dora, den Todesmarsch nach Bergen-Belsen und kehrte in die damals zur Sowjetunion gehörenden Ukraine zurück, wo er an der Bergbau-Akademie studierte und als Ingenieur arbeitete. Am 18. März 2022 starb der 96-Jährige nach einem Raketenangriff in seinem Wohnhaus in Charkiw. Das Historisch-Technische Museum Peenemünde will an sein Schicksal in einer neuen, noch nicht fertigen Dauerausstellung ausführlich erinnern. Die Peenemünder Konzerte sind mit der exklusiven Residenz des New York Philharmonic 20 Jahre nach ihrer Premiere aktueller und politischer denn je.

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Dieses Thema im Programm:

NDR 1 Radio MV | Kulturjournal | 18.05.2022 | 20:00 Uhr

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