Weniger Mitglieder: Wie ist die Stimmung in der Chorszene?
Die deutschen Chöre verzeichnen seit der Corona-Pandemie weniger Mitglieder. Am deutlichsten sieht es bei Kinder- und Jugendchören aus. Ein Gespräch mit der Geschäftsführerin des Deutschen Chorverbandes Veronika Petzold.
Frau Petzold, wie sieht es aus in der deutschen Chorszene?
Veronika Petzold: Auf jeden Fall haben viele Chöre in diesem Jahr endlich wieder richtig loslegen können. Viele Konzerte werden gegeben, viele Chöre sind wieder mit Lust und Freude dabei. Auch wir hatten mit dem deutschen Chorfest in Leipzig einen sehr fulminanten Auftakt für diese Chorsaison. Selbstverständlich sind die Chöre sehr bewusst im Umgang miteinander, denn die Pandemie ist nach wie vor ein wichtiges Thema. Sie hat viele Chöre insofern getroffen, dass die Mitglieder immer noch ängstlich sind oder auch verloren gegangen sind. Wir beobachten nicht, dass sich die Chöre in Mengen aufgelöst haben, sondern dass weniger Menschen in den Chören singen. Insofern ist die Hoffnung allerorten zu spüren, dass wir damit langsam ein gutes Handling entwickeln und vor allem die Lust, gerade in der Sommerphase viele Konzerte zu geben.
Wir haben von unseren Hörerinnen und Hörern die unterschiedlichsten Rückmeldungen bekommen. Das geht von: "Wir haben einfach unseren privaten Chor gegründet und auch in den Lockdowns gemacht, was wir wollen" - bis hin zu: "Ich bin nur noch bei den Chören gewesen, bei denen ich dachte, dass diese wirklich verantwortungsvoll sind." Diese Kompromisse auszuhandeln ist doch immer wieder schwer, oder?
Petzold: Richtig. Aber es ist nun mal eine Situation, die nicht nur die Chöre, sondern unser gesamtes Leben seit einigen Jahren prägt. Unsere Arbeit hat sich in den letzten Jahren vielfach daraufhin orientiert, wie man sich jetzt verantwortungsvoll verhalten soll, wie man sich und die anderen schützen und trotzdem Musik machen kann. Der erste Winter mit den vielen digitalen Proben hat viele Menschen nicht befriedigen können, weil das etwas völlig anderes ist und viele auch den Zugang zu diesen digitalen Instrumenten gar nicht haben. Für die ist das Singen in allererster Linie ein großes Gemeinschaftserlebnis und das will man nicht mit anschließenden Krankheiten in Verbindung bringen.
Ja, unsere Chöre sind sehr unterschiedlich unterwegs. Vor allem im Seniorenbereich beobachten wir noch Ängste und Vorsicht, was ja auch an vielen Stellen berechtigt ist. Aber es gründen sich sogar neue Chöre, gerade jetzt, wo man es nicht unbedingt erwarten würde. Die Chorlandschaft wird sich wieder aufrappeln, weil dieses Kulturgut, diese Beschäftigung miteinander, dieses soziale Interagieren über eine sehr schöne Sache wie das Singen, nicht so einfach abzulegen ist. Wer das einmal im Herzen gehabt hat, der will da auch wieder hin zurück. Da bin ich ganz optimistisch.
Die Chöre haben weniger Mitglieder, und ich habe gehört, dass es am schwierigsten bei Kinder- und Jugendchören aussieht. Was ist da passiert?
Petzold: Da haben wir nicht nur den Einfluss der Chorvereine - der Deutsche Chorverband vertritt ja vor allem die vereinsorientierten Chöre in Deutschland. Sondern bei den Kinder- und Jugendchören hängt ganz viel auch mit den Schulen zusammen. Da hat über längere Zeiträume der Musikunterricht vielerorts nicht stattgefunden. Ganze Jahrgänge sind in dieser Zeit gar nicht musikalisiert worden, und das hat natürlich Auswirkungen. Es ist wissenschaftlich erwiesen, dass man den Weg in Chöre eigentlich bis zum 18. Geburtstag findet, und wenn da zwei ganze Jahrgänge ausfallen, wird das eine Langzeitwirkung zeigen, die wir jetzt noch gar nicht ermessen können. Natürlich gab es gerade bei den Kinder- und Jugendchören, die darauf angewiesen sind, dass die Eltern die Kinder zur Probe bringen, wo also noch viel mehr Logistik dranhängt als bei einem Erwachsenenchor, ganz viele Einschnitte durch die Pandemie. Aber vor allem war es das Herunterfahren des Musikunterrichts: In vielen Bundesländern hatten wir Gesangsverbote in Schulen - das hatte bei den Kinder- und Jugendchören die stärksten Auswirkungen. Da sind wir auch gefordert, jetzt Aufbauarbeit zu leisten: Die kleinen Bäume müssen wieder gepflanzt werden, damit das nachwachsen kann, was uns leider verloren gegangen ist.
Was müsste da jetzt passieren?
Petzold: Das, was wir eigentlich schon seit langer Zeit fordern: dass Musik wieder ein fester Bestandteil in den Schulen wird - und zwar nicht nur im hörenden Sinne, sondern vor allem im produzierenden. Kinder und Jugendliche zum Musizieren, zum Singen zu führen, ist eine ganz wichtige Aufgabe, die das Bildungssystem leider Gottes über Jahrzehnte nicht mehr zur Befriedigung aller erfüllt. Stattdessen hat es da schon einen Abbau gegeben, und der zeigt jetzt doppelte und dreifache Negativwirkungen, wenn wir auch noch in solcher Pandemie-Situation den Musikunterricht zurückfahren.
Singen ist etwas ganz Grundständiges in uns Menschen, gerade dieses gemeinsame Erlebnis. Das fördert Gesundheit - andererseits möchten sich Menschen nicht anstecken. Wie kann man diesen Balanceakt schaffen?
Petzold: Grundsätzlich ist das Singen eine sehr gesunde Veranstaltung. Gerade im Kontext mit Long-Covid-Therapien wird das Singen immer stärker wieder in den Blick genommen. Atmung, Lungenvolumen und so weiter sind kausale Einschränkungen, die aus diesem Krankheitsbild erwachsen sind, die man aber mit allen Eigenschaften des Körpereinsatzes, die beim Singen gefordert sind, positiv beeinflussen kann. Aber vor allem wissen wir aus Studien, dass kontinuierliches Singen die Grundgesundheit, also die Vorbeugung für Erkältungskrankheiten, positiv beeinflusst. Das, was in den letzten Jahren krank gemacht hat, ist das Virus und nicht das Singen. Aber wir müssen uns vorsehen: Wir müssen beim Singen Hygienekonzepte und Abstände einhalten. Wir müssen darauf achten, dass die Raumluft regelmäßig gereinigt wird. Und wenn man das alles beherzigt, dann haben wir es ganz gut im Griff. Beim Chorfest im Mai waren wir mit 350 Chören in Leipzig dabei, und es hat keine einzige Infektionswelle gegeben. Da bewahrheitet sich, dass ein gutes Hygienekonzept seine Wirkung zeigt.
Das Gespräch führte Mischa Kreiskott.
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