Ein bewegter bewegender Tag in San Sebastián
Das NDR Elbphilharmonie Orchester ist auf Europa-Tournee. NDR Kultur Moderator Philipp Schmid bloggt an Tag 4 aus San Sebastián. Hier ist das Publikum ganz nah bei den Musikern und wie selten Teil der Aufführung gewesen.
In mehrfacher Hinsicht spielte heute "Bewegung" eine Rolle, ein Tag, der einen sehr bewegenden Abschluss finden sollte. Doch dazu später mehr.
Vormittag an der muschelförmigen Bucht von San Sebastían
Am Vormittag bewegen sich alle nach eigenem Tempo durch die Stadt, bei angenehmen Temperaturen kann man herrlich am Meer entlang spazieren, durch die muschelförmige Bucht, in der San Sebastián liegt - an der Uferpromenade flanieren, einkaufen, im Café sitzen.
Einige bewegen sich ganz weit nach oben und machen mit Drohnen in schwindelerregenden Höhen faszinierende Fotos. (Übrigens spielen sie ein Instrument, das, wenn besonders hoch gespielt, beim Zuhörer ebenfalls Schwindel erregen kann, oder zumindest große Anerkennung). Trotzdem wissen alle Orchestermusiker, dass sich der heutige Tag auf ein Konzert am Abend zubewegt. Das ist immer die Richtung und das Ziel.
Chefdirigent Alan Gilbert probt in gelöster Stimmung
Bei der Vorprobe am Nachmittag bewegt sich Chefdirigent Alan Gilbert zügig durch die Reihen in Richtung Pult, fast könnte man denken, er habe sein Orchester vermisst (und umgekehrt!) nach einem spielfreien Abend gestern. Tatsächlich wird sich leicht berührt, angelächelt, freundschaftlich verbunden auf die Schulter getippt. Aufmunternde Worte, gelöste Stimmung, ein Lachen geht durch die Reihen.
Masken nur hinter der Bühne im Kursaal Auditorio
Hier in Spanien gilt ebenfalls wieder: Maske tragen hinter der Bühne, dafür kann das Orchester auf dem Podium sitzen - wie gewohnt. Offensichtlich hat Gilbert einige Stellen der Bruckner-Sinfonie über die zwei Tage nochmal in seinem Herzen bewegt und probt sie nach. Ganz genau, zielsicher, freundlich.
Die Zugabe wird geprobt, sie wird auf der Tournee nur ein einziges Mal zu hören sein, aber das wird viele Menschen bewegen, vor und auf der Bühne. Joshua Bell tänzelt auf die Bühne, er kennt das Orchester, erst am vergangenen Donnerstaghat man zusammen in der Elbphilharmonie gespielt. Aber wie weit scheint das im Moment zurückzuliegen, eben weil vieles dazwischen ist - an Entfernung und emotional, Paris, Lyon, das Reisen, die schnelle Bewegung, bei der die Seele Schritt halten muss.
Gilberts Gesten: "Fledermaus" und "Köhlbrandbrücke"
Es ist schon etwas Besonderes, wenn man an einer Konzertprobe teilnehmen darf - immer spannend zu sehen, wie die neu und etwas anders geprobten Stellen dann später im Konzert klingen (wenn man sich das genau merken kann...). Die Verschiebung und Bewegung ist für den Laien vermutlich kaum spürbar.
Dafür sind mir bei Alan Gilberts Dirigat zwei Gesten aufgefallen, die ich bislang noch nicht von ihm kannte. Das sind meine Lieblingsgesten und ich gebe ihnen Namen. "Fledermaus" und "Köhlbrandbrücke". Die etwas seltsamen Namen haben mit der Bewegung zu tun, ich kann das natürlich im Tagebuch schlecht vormachen. (Im Radio ginge es auch nicht). Vielleicht haben Sie eine Idee.

Später im Konzert achte ich darauf, wann Gilbert die "Fledermaus" und wann die "Köhlbrandbrücke" macht. Herrlich. Und die Musikerinnen und Musiker folgen ihm, wissen genau, was er mit welcher Geste anzeigen will. Sehr angenehm und inspirierend, ihm beim Dirigieren zuzusehen.
Das gilt auch fürs Orchester: Einmal mehr fällt mir auf, wie freundlich und strahlend manche auf die Bühne kommen; glücklich lächelnd den Blick durch die Sitzreihen gleiten lassen, höflich nicken, willkommen heißen, selbst danken für die Einladung und die Möglichkeit, hier zu sein. Dann ganz vorne auf dem Stuhl sitzen, tanzend mit den Beinen, den Oberkörper schwungvoll bewegend, weit ausladend mit dem Bogen, dem Instrument den Raum nutzen, und schließlich dankbar lächelnd ein gemeinsames Musikerlebnis beschließen.
Bewegungen des Orchesters erinnern mich an wogendes Meer
Es gibt gegen Ende des zweiten Satzes der Bruckner-Sinfonie eine Stelle, da schwingen sich die Streicher leidenschaftlich nach oben, insistieren, haken nach und lassen nicht locker, da ist so viel Bewegung im Orchester, dass es mich an ein wogendes Meer erinnert. Und ich denke tatsächlich in diesem Moment nicht "Wellen", "Brandung", sondern "wogendes Meer". Dahinter die Bläser ruhig und souverän, sie fegen klanglich alles weg, sind aber der Fels. Ein Klang wie ein Gemälde von Caspar David Friedrich.
Publikum erhebt sich beim baskischen Lied Agur Jaunak
Abends im Konzert dann (wie bereits angedeutet) die besondere Zugabe, das Gastgeschenk und musikalischer Dankes-Blumenstrauß: Agur Jaunak, ein baskisches Lied, das bei verschiedenen Gelegenheiten gesungen wird, immer geht es dann um ein "Willkommen" oder ein "Lebe wohl". Und Musik kann vieles sein - Genuss, Trost, Motivation, Zeitvertreib - oder eine Umarmung.
Dieses Stück, eigens für den Abend arrangiert, hat das NDR Elbphilharmonie Orchester gestern in San Sebastián gespielt, im Baskenland. Hier kennt jeder das Stück. Es geht um Gemeinschaft, Dankbarkeit und Gastfreundschaft. Danke, dass wir hier sein dürfen - danke, dass Ihr da wart. Spontan erhebt sich das Publikum und summt im Stehen mit.
"Sich so respektvoll vom Publikum zu verabschieden, war eine ganz große Geste", sagt mir ein junger Mann, "das Stück spricht ganz tiefe Gefühle an - und geht uns sehr zu Herzen - hoffentlich haben die Musiker das auch gespürt...", ergänzt ein weiterer und "fantástico! - fantástico!", ruft eine Frau und macht sich glücklich bewegt auf den Heimweg. Diese freundliche Geste wird sie von diesem norddeutschen Orchester in Erinnerung behalten.
Wiedersehensfreude mit Geiger Xabier de Felipe

Wiedersehensfreude gab es auch mit Xabier de Felipe. Der baskische Geiger hat eine Zeit lang im NDR Elbphilharmonie Orchester gespielt. Das Baskenland war immer seine Heimat und ist jetzt wieder sein Zuhause: "Wir Basken sind sehr empfindsame Menschen und etwas introvertierter als die Spanier. Sehnsucht und Freiheit sind für uns ein wichtiges Element", sagt er. Die Musik tröste über vieles hinweg, aber so fern ab der Heimat fühlt sich auch ein Musiker, der an Reisen und Unterwegssein gewöhnt ist, auf Dauer nicht glücklich. Ganz herzlich schließt er seine ehemaligen Kolleginnen und Kollegen in die Arme, wenigstens ein paar Stunden konnten sie Besuch und Gastfreundschaft teilen und gemeinsam musizieren, denn das Publikum war heute ganz nahe bei den Musikern und wie selten Teil der Aufführung.
NDR Elbphilharmonie Orchester bringt Musik zu den Menschen
Musik zu den Menschen bringen - dafür macht das NDR Elbphilharmonie Orchester das. Bewegend und selbst immer wieder bewegt: Das war an diesem Tag immer wieder zu spüren. "Mein Orchester", denke ich inzwischen ganz oft liebevoll - Menschen, die mit fröhlichen Gesichtern grandiose Musik spielen, aufeinander und auf andere zugehen, Botschafterinnen und Botschafter sind. Mit einfachen oder komplizierten Melodien die Herzen erreichen.
Mit Gesten, Blicken, vor allem aber mit Tönen.
Das Konzert aus Madrid am Dienstagabend mit Alan Gilbert, Joshua Bell und dem NDR Elbphilharmonie Orchester auf Europa-Tournee übertrug NDR Kultur heute live - von 19 bis 22 Uhr.
