Chor mit Ukrainerinnen in Wolfsburg: "Das Herz öffnet sich"
In einem Gemeindesaal im Stadtteil Westhagen treffen sich ukrainische Mütter und ihre Kinder, um Lieder aus ihrer Heimat zu singen. Ihr Chorleiter sagt: "Die Leute müssen irgendwie eine Geborgenheit finden."
Immer freitagabends treffen sie sich im Gemeindesaal der evangelischen Bonhoeffer-Gemeinde im Wolfsburger Stadtteil Westhagen: rund 15 ukrainische Frauen, ihre Kinder und auch einige wenige Männer. Gemeinsam stimmen sie hier ukrainische Lieder an.
Chor als Treffpunkt: Quatschen, singen, Kaffee trinken
Am Klavier sitzt Chorleiter Paul Schaban. Der freundlich lächelnde Mann mit schwarzer Hornbrille hatte die Idee zum Chor. Er ist selbst gebürtiger Ukrainer und lebt seit fast 30 Jahren in Deutschland. Damit ihnen der Neuanfang in Wolfsburg nicht ganz so schwer fällt, wollte er seinen Landsleuten eine Möglichkeit bieten, auf andere Gedanken zu kommen. "Ich habe gemerkt: Die Leute müssen irgendwie eine Geborgenheit finden", sagt Schaban. "Sie sind in einem anderen Land, in eine andere Kultur eingetaucht. Mit fremder Sprache, fremder Kultur, fremden Leuten. Hier können wir einfach ein bisschen quatschen, Lieder singen und Kaffee trinken."
Zusammen sein, sich nicht so alleine fühlen, gemeinsam musizieren in der Sprache der Heimat - der langjährige Chorleiter weiß um die therapeutische Kraft der Gemeinschaft und der Musik. "Gerade in schwierigen Zeiten lenkt Musik einfach ab von den ganzen Sorgen", so Schaban. "Musik ist gut für die Seele, sie sorgt für Resonanz. Die Wörter verbinden sich mit gutem Sinn, mit guten Wünschen für die Ukraine. Das Herz öffnet sich. Man kann sagen: Das ist therapeutische Meditation."
Singen, um die Traurigkeit auszuhalten
Die Teilnehmerinnen haben Erschütterndes erlebt. So wie Liliya aus Kiew. Wochenlang versteckte sich die 50-Jährige vor russischen Luftangriffen in den Kellern von Hochhäusern. Mit einem der letzten Busse aus Kiew gelang es ihr und ihrer neunjährigen Tochter, vor der anrückenden russischen Armee nach Polen zu fliehen. Ihr Mann blieb zurück, kämpft jetzt im Osten an der Front.
Wildfremde Leute nahmen Liliya und ihre Tochter schließlich mit nach Wolfsburg. Dort hörte die Lehrerin dann vom ukrainischen Chor und ging hin. Das Singen hilft ihr, die Traurigkeit ein wenig besser auszuhalten. "Was passiert mit uns? Warum müssen wir aus unserer Heimat flüchten? Was ist überhaupt passiert?", fragt Liliya. Das, was derzeit in der Ukraine geschieht, sei einfach nicht zu begreifen.
Geflohen vor der russischen Armee - schon wieder
Trost in den Liedern der Heimat findet auch Natalia. Die 38-jährige Schusterin und Köchin stammt ursprünglich aus dem Donbass, der umkämpften Region im Osten der Ukraine. 2014 floh sie aus Donezk schon einmal vor der russischen Armee. Aus Schytomyr musste sie nun ein zweites Mal flüchten - wieder wegen der russischen Aggression. "Ich bin ein frommer Mensch", erzählt Natalia. "Ich mag besonders die Lieder, in denen Gott gepriesen wird. Das bedeutet mir viel. Denn ich denke, er leitet uns auch durch diese schwere Zeit."
Beweis dafür ist ihr die Begegnung mit Paul Schaban, dem Chorleiter aus Wolfsburg. Sie kennt ihn noch aus ihrer Kindheit im Donbass. Durch einen Zufall kreuzten sich die Wege der beiden Menschen nun ein weiteres Mal. Natalia las Paul Schabans Anzeige in den sozialen Medien, in der er Geflüchteten einen Schlafplatz anbot. Der zweifachen Mutter und auch dem Chorleiter erscheint das wie eine Fügung. "Ich habe schon früher in Donezk ein Orchester geleitet", so Schaban. "Und sie war ein kleines Mädchen, hat bei mir gesungen. In einem Orchester mit Chor. Sie hat dort auch schon solo gesungen. Also schon vor 30 Jahren!"
"Alles ist in der Ukraine geblieben"
Auch die 18-jährige Zlata besucht mit ihrer Mutter jeden Freitag den ukrainischen Chor in Wolfsburg. Die Wirtschaftsstudentin stammt aus Odessa, der schönen Hafenstadt im Süden der Ukraine. Alle ihre Freunde sind noch dort, wo ständiger Raketenalarm herrscht, weil Odessa von russischen Kriegsschiffen im Schwarzen Meer mit Raketen beschossen wird.
Zlata und ihre kranke Mutter hielten die Angst und die ständigen Sirenen irgendwann nicht mehr aus. Vor Wochen packten sie ein paar Sachen, nahmen ihren kleinen Hund und gingen weg aus Odessa. "Wir mussten alles zurücklassen - unsere Wohnung, unsere Freunde, unsere Arbeitsplätze", sagt Zlata. "Alles ist in der Ukraine geblieben und wir können nichts tun. Alles was wir tun können, ist vielleicht beten." Nach einer tagelangen Odyssee durch mehrere Länder landeten Zlata und ihre Mutter irgendwann in Wolfsburg - und stießen dort, so wie auch die anderen, mehr oder weniger zufällig zum Chor.
"Fernab von der Heimat wollen wir unsere Lieder hören"
"Ehrlich gesagt habe ich vorher noch nie im Chor gesungen", erzählt die junge Frau. "Ich mag Musik, singe sonst aber allenfalls unter der Dusche. Fernab von der Heimat aber wollen wir unsere Sprache hören, unsere Lieder. Das schweißt zusammen. Und deshalb ist das wunderbar, dass wir hier in diesem Gemeindesaal diese schöne Musik zusammen machen können."
Der Chor klingt so gut, dass er inzwischen auch schon erste Auftritte in Wolfsburg hatte.