Frankreich: Alles dreht sich um den neuen Houellebecq
Ein neuer Roman von Skandalautor Michel Houellebecq ist in Frankreich immer ein Ereignis. Die französische Kritik schwankt zwischen Begeisterung und Ernüchterung. "Vernichten" gibt es nun auch auf Deutsch.
Wie eine Trophäe posteten findige Fans das noch gar nicht erschienene Buch "Anéantir" vor Weihnachten auf ihren Instagram-Accounts. "730 Seiten am Kaminfeuer" hieß es da begeistert - die Feiertage schienen gerettet. Per WhatsApp fanden Raubkopien sogar ihren Weg auf die Smartphones der internationalen Auslandspresse, dabei hatte das Verlagshaus Flammarion eine strenge Sperrfirst gesetzt und der Autor selbst nur ein einziges Interview vorab in der Zeitung "Le Monde" gegeben. Doch der neue Houellebecq ist eben stets ein Ereignis - das Rennen darum, dieses Ereignis als einer der ersten zu erleben, ein beinahe sportliches Ritual. Die französischen Kritiker haben das neue Werk mit dem Titel "Vernichten" mehrheitlich gefeiert.
"Vernichten" weniger skandalträchtig als Vorgänger
"Das ist ein Buch, das ich mit großer Leidenschaft gelesen habe. Wie immer finde ich diesen Schreibstil wieder – diesen Stil - zugleich flüssig und prickelnd - von Houellebecq. Natürlich ist das Buch weniger skandalträchtig als die Vorgänger. Das haben auch meine Kollegen moniert", sagt Alexis Brocas von der Zeitschrift "LIRe!" Und meint damit etwa Jean Faerber, der im Radio auf "France Culture" kein gutes Haar an dem neuen Roman ließ:
"Dieses dicke Buch tut so, als sei es ein großes Buch. Es speist sich aus dem Mythos, Houellebecq sei ein großer Schriftsteller. Und man sieht an der enthusiastischen Presse, dass dieser Mythos funktioniert. Aber hier ärgert man sich doch über die große Plattheit des Ganzen. Houellebecq ist dafür berühmt, Dinge vorherzusagen, zu antizipieren - nichts davon findet man hier. Die Person Houellebecq steht nackt da und man wird sich gewahr, dass es nicht um 'Vernichten' geht, sondern um 'nichts' - dieses Buch verkörpert 'nichts'."
Hoffnungsfroher Roman vom Meister der Dystopie
Was ist passiert? Die Cassandra des französischen Literaturbetriebs, der Meister des Zynismus und der düsteren Dystopie hat ein Buch vorgelegt, das einigen nachgerade hoffnungsfroh erscheint. Und einen Plot gesponnen, der sich aus einem packenden Politthriller um den Wirtschaftsminister Bruno Juge im Jahr 2027 zu einem Familienroman um dessen Mitarbeiter Paul Raison entwickelt. Raison lebt in erkalteter Partnerschaft zu seiner Frau Prudence. Im Angesicht des Todes seines Vaters wiederum findet Raison zurück zu seiner Frau.
Etwa ein Happy End? Nicht ganz - denn das alles spielt in einem für den Autor typischen Setting, wie Nicolas Demorand im Radio France Inter beschreibt: "Man findet Houellebecqs Frankreich vor - pastoral, manchmal idyllisch, der Islam hat in den kleinen Provinzstädten Einzug gehalten, und der rechtsextreme Rassemblement National ist eine Partei wie jede andere geworden - wir wohnen dem willenlosen Zerfall der Demokratie bei."
Rekord-Erstauflage von 300.000 Exemplaren
Er sei eine Hure, sagt Houellebecq in seinem Interview mit "Le Monde": Er schreibe nicht wegen des Geldes, sondern für den Applaus. Er wolle geliebt und bewundert werden, gar Freude bereiten. In jedem Fall hat Houellebecq sich selbst Freude bereitet. Sein dickes Buch ist - in Frankreich völlig unüblich – als Hardcover erschienen: komplett weißer Einband in Anlehnung an das berühmte Beatles-Album. In einer französische Rekord-Erstauflage von 300.000 Exemplaren.
