"Ein erhabenes Königreich": Zwischen Wissenschaft und Glaube
In "Ein erhabenes Königreich" wirft Yaa Gyasi die Frage auf, wie weit ein Mensch mit den Naturwissenschaften kommt, wenn er sich sein Leben erklären will. Lässt die Wissenschaft Raum für Glauben und Individualität?
Die Autorin Yaa Gyasi ist in den USA nicht einfach für ihre fein-ausgedachten und schön-formulierten Bücher bekannt. Sie gehört auch zu den Autoren, die ihre Werke auf "anti-racist reading lists" wiederfinden, Lektüreempfehlungen also, die vornehmlich weißen Lesern die Augen öffnen sollen, wenn es um den anhaltenden Rassismus in den USA geht.
Gyasis Werke sperren sich nicht gegen eine solche Lesart, und doch legt die Autorin selbst Widerspruch ein: Sosehr sie an die Kraft der Literatur glaube, schrieb sie im "Guardian", sosehr misstraue sie der Idee, dass Urlaubslektüre allein etwas bewirken könne.
Sie wohnte jetzt seit einer Woche bei mir und hatte vielleicht fünf Sätze gesagt. Ich hatte auch nicht viel gesprochen. Ich wusste nicht, worüber. Was sagt man zum Rücken einer Frau, dem Rücken der eigenen Mutter? Leseprobe
Der Leser kann die Frage nur zu gut verstehen: Was soll einem schon einfallen, wenn die Mutter wochenlang im Bett verschwindet und der Welt den Rücken zukehrt? Gifty jedenfalls hat keine Antwort parat - auch wenn ihr, im Gegensatz zum Leser, der regungslose Rücken der Mutter längst vertraut ist. Als der Roman beginnt und sich die Mutter ins Bett der Tochter einquartiert hat, lebt Gifty gerade in Stanford. Sie arbeitet an ihrer Dissertation und erinnert sich sehr genau daran, wie sie mit elf Jahren zum ersten Mal versuchte, der Mutter aus ihrer Depression zu helfen.
"Ein erhabenes Koenigreich": Über die Depression einer Mutter
Dabei war diese Frau früher eine Kämpferin. Sie hat es ausgehalten, als der Mann ohne ein Wort nach Ghana zurückgekehrt ist, als er den Rassismus in den USA nicht mehr ertragen hat. Sie hat es ausgehalten, als sie mehrere Jobs brauchte, als der Sohn drogensüchtig wurde und damit denen in die Karten spielte, die in Afroamerikanern ohnehin gefährdete oder gefährliche Menschen sehen. Aber als der Sohn an seiner Sucht stirbt, stellt diese Frau das Kämpfen ein. Sie legt sich ins Bett und lässt die Elfjährige mit sich und dem stummen Rücken allein.
"Alles in Ordnung, Gifty?", fragte mich Mrs Greer, die Bibliothekarin, als sie mich zwischen den Regalen sah. (...) Wenn es in diesem Jahr irgendjemanden in der Schule gegeben hätte, der sich wirklich für meine Sorgen zu Hause interessiert und einen Weg gefunden hätte, mir zu helfen, wäre es Mrs Greer gewesen.
"Mir geht’s gut", sagte ich, und kaum war mir die Lüge über die Lippen gekommen, wusste ich, dass ich mich selbst um meine Mutter kümmern würde.
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Gifty, die einsame Kämpferin
Mit elf Jahren entscheidet sich Gifty, keine Hilfe anzunehmen. Und Yaa Gyasi erzählt, was diese einsame Entscheidung aus einem Leben macht. Sie erzählt aber auch, wie wenig Nachbarn, Freunde, Verwandte helfen wollen, als Giftys Familie für alle sichtbar schrumpft. Vor allen Dingen aber stellt Yaa Gyasi ihren Lesern eine ungemein kluge Protagonistin vor, die sich aus eigener Kraft zu erklären versucht, was den Bruder zu den Drogen und die Mutter ins Bett getrieben hat.
Gifty wird Neurowissenschaftlerin, erforscht Gehirne von Mäusen und hofft im Stillen, in den Nervenzellen der Tiere Antworten auf die Fragen ihrer Familie zu finden:
Ich bin keine Psychologin oder Historikerin oder Sozialwissenschaftlerin. Ich kann das Gehirn eines deprimierten Tiers untersuchen, aber ich denke nicht über die Umstände nach, die zu dieser Depression geführt haben. Wie jeder andere auch kenne ich einen Teil der Geschichte, eine einzige Zeile, die ich studieren und rezitieren, mir einprägen kann. Leseprobe
Die Wissenschaft als Lösung?
Yaa Gyasi bleibt diesem Bekenntnis ihrer Protagonistin treu: Auch sie springt nicht zwischen den Perspektiven, auch sie versucht nicht, jeden Teil der Familiengeschichte zu rekonstruieren. Aber den einen Teil, Giftys Blick nämlich, studiert sie sehr genau. Für den Leser ist das ein Glück, denn in Giftys Geschichte steckt einiges, was einen traurig machen und begeistern kann: Natürlich berühren einen die Verluste dieser Frau sofort, und Yaa Gyasi erzählt auch sehr emotional davon.
Aber noch interessanter sind die Laborszenen und all die Fragen, die sich daraus ergeben: Wie weit kommt ein Mensch mit den Naturwissenschaften, wenn er sich sein Leben erklären will? Reicht die Wissenschaft aus oder lässt sie Raum für so etwas wie Glauben, Sinn, Individualität? All das sind Giftys Fragen und denen schließt man sich als Leser sehr gerne an.
Ein erhabenes Königreich
- Seitenzahl:
- 304 Seiten
- Genre:
- Roman
- Zusatzinfo:
- Übersetzt von Anette Grube
- Verlag:
- Dumont
- Veröffentlichungsdatum:
- 13. August 2021
- Bestellnummer:
- 978-3-8321-8132-1
- Preis:
- 22,00 €
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