Sasha Filipenko, "Die Jagd"  (Cover) © Diogenes

"Die Jagd": Thriller über das russische Klima der Angst

Stand: 21.03.2022 14:43 Uhr

2016 schrieb Sasha Filipenko den Thriller "Die Jagd", der jetzt auf Deutsch erscheint. Der Roman wirkt heute fast prophetisch.

von Annemarie Stoltenberg

Schon der erste auf Deutsch bei Diogenes erschienene Roman des belarussischen Schriftstellers Sasha Filipenko war Aufsehen erregend. Er hatte die Gräuel der Stalin-Diktatur in den Erinnerungen einer alten Dame beschrieben. Der Diogenes Verlag sicherte sich umgehend die Weltrechte dieses Autors und dann erschien der Roman "Der ehemalige Sohn", wo Filipenko in satirisch-realistischer Weise das Regime Lukaschenko beschreibt. Im Thriller "Die Jagd" geht es um Mechanismen, die das Klima der Angst erzeugen.

Hetzjagd auf einen Journalisten

Ein Journalist namens Anton Quint hat herausgefunden, dass der Oligarch Wolodja Slawin, der unentwegt von seiner Liebe zum Vaterland Russland spricht und politische Ambitionen hegt, schon längst - wie die meisten reichen Russen - sein Vermögen im Ausland in Immobilien angelegt hat. Seine Kinder und seine Ehefrau verfolgen von der Côte d`Azur aus im russischen Fernsehen seine verlogenen Statements. Slawin heuert finstere Gestalten an, die dafür sorgen sollen, dass Quint einfach verschwindet:

Der Feind griff von allen Seiten an. Die Schlinge zog sich zu, die Belagerung begann. Ich wollte Quint mithilfe kleinster Details aus der Bahn werfen. Derbes Fluchen, Rempeln auf der Straße, ein Auto, das ihm am Zebrastreifen den Vorrang nahm, unfreundliche Bedienung im Laden. So wie ich es von Anfang an vorgehabt hatte, akkumulierten wir um ihn herum das Böse … Wenn wir Quint Beine machen wollen … Dann müssen wir ihn dazu bringen, jede Kleinigkeit in diesem Land zu hassen. Leseprobe

Ein System der Gewalt und Unterdrückung

In dem Thriller von Sasha Filipenko wird ein System der Gewalt und Unterdrückung beschrieben, eine Welt, die aus den Fugen geraten ist. Der politische Druck auf kritische Stimmen wird immer brutaler. Er beschreibt, nach welchen Mechanismen das Klima der Angst erzeugt wird. Wie Menschen eingeschüchtert, zermürbt und zum Schweigen gebracht werden sollen. An besonders brutalen Stellen im Roman möchte man glauben, es sei vom Autor dramatisiert und gesteigert worden. Offenbar geht es den Menschen in Russland ebenso, dass sie vieles einfach nicht wahrhaben wollen:

In Russland leben heißt, fähig zu sein, die Augen zu verschließen. Die Angliederung von Halbinseln, die Erfindung von Feinden - all das ist eine einzige große, so groß wie die Geschichte des Landes, ins Unendliche hinausgezögerte Masturbation. Seit Peter dem Großen hecheln wir hinter Europa her und bezichtigen es zugleich der Vulgarität und Dekadenz. Und ich glaube nicht, dass sich das je ändern wird. Leseprobe

Psychogramm der russischen Seele

Die Schonungslosigkeit, mit der Sasha Filipenko das System der Unterdrückung bereits im Jahr 2016 beschrieben hat, wird im Roman zu einer Mischung aus Satire, Thriller und Psychogramm der russischen Seele - oder wie immer man die Stimmung im Land bezeichnen möchte. Anders als in den meisten Kriminalromanen oder bei James Bond, siegt hier nicht das Gute, sondern es werden sich Abgründe auftun:

Wir hätten wirklich nicht so Gas geben sollen … Quint war mehr tot als lebendig. Das sage ich dir jetzt ganz im Ernst. Wir haben ihm nichts übrig gelassen. Haben ihn, wie's so schön heißt, zu Brei zerstampft. Und dann noch diese Verhöre. Leseprobe

Zurzeit betrachten wir Russland mit Sorge und Angst von außen. Filipenko nimmt uns mit diesem literarisch starken, anspruchsvollen Text auf mehreren Erzählebenen mit ins Landesinnere. Sein Roman bietet eine verwirrende, ängstigende wie Schüttelfrost erzeugende Lektüre.

Die Jagd

von Sasha  Filipenko
Seitenzahl:
280 Seiten
Genre:
Roman
Zusatzinfo:
Aus dem Russischen von Ruth Altenhofer
Verlag:
Diogenes
Bestellnummer:
978-3-257-07158-0
Preis:
23,00 Euro €

Dieses Thema im Programm:

NDR Kultur | Neue Bücher | 22.03.2022 | 12:40 Uhr

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