"Sommernächte": Aharon Appelfelds Weisheit der Großväter
In rund 50 Romanen hat der Holocaustüberlebende Aharon Appelfeld die Welt seiner Kindheit immer wieder auf berührende Weise beschrieben. Sein später Roman "Sommernächte" erscheint nun erstmals auf Deutsch.
Die Bukowina in den 1940er Jahren. Der Zweite Weltkrieg hat das rumänisch-ukrainische Grenzgebiet erfasst. Über den Feldweg zwischen zwei Dörfern wandert ohne Eile ein ungleiches Gespann.
"Sind Landstreicher anders als Menschen, die in Häusern wohnen?", fragte Janek. Nach einer Pause antwortete Großvater Sergej: "Sie reden weniger, beobachten und lauschen dafür gern." Leseprobe
Um den 11 Jahre alten Janek vor der Judenverfolgung zu schützen, hat der Vater ihn zu einem alten Freund gebracht. "Großvater Sergej", wie die Familie den alten Mann aus Respekt und Liebe nennt, war einst Soldat und Kommandant einer Kompanie. Inzwischen ist er blind und obdachlos. Doch seine Würde hat er sich bewahrt.
"Die echten Landstreicher trachten danach, sich zu läutern, sich Gott zu nähern und dabei zugleich den Bedürftigen zu helfen. Ein Landstreicher ist innerlich kein Bettler, er ist ein freier Mensch." Leseprobe
Appelfeld verarbeitet in "Sommernächte" seine eigenen Erinnerungen
Sergej nimmt sich des Jungen an und lehrt ihn alles, was er weiß. Wanderschaft als Lebensform. Janek trifft auf ein junges Mädchen, das sich sehr für ihn interessiert; auch eine Bäuerin will Janek wiedersehen, dann wenn er kein "Welpe" mehr sei. Sie begegnen auch Sergejs früherer Geliebten, zu der er nicht zurückgekehrt ist, weil die Stadt mit ihren Vergnügungen ihn verführt und gefangen hatte, wie er reumütig erzählt. Und sie besuchen einen ehemaligen Untergebenen Sergejs, der seinen Kommandanten immer noch verehrt.
Viele Menschen sind freundlich und hilfsbereit; andere bewerfen die Landstreicher mit Steinen. Es sind eigene, echte Erinnerungen, die Appelfeld in dem Roman verarbeitet. Wie Janek war er vor den Deutschen auf der Flucht. Mit Gelegenheitsarbeiten schlug er sich als Kind alleine durch: "Einmal drehte sich ein großer Bauer zu mir um uns sagte, 'was tust Du da, Du dreckiger Jude'. Ich weiß nicht, wer mir das eingab, doch ich sagte: ‚Wie kannst Du es wagen, einen Christenjungen Jude zu nennen!‘ Ich glaube, es war mein Großvater, der mir diesen Satz eingepflanzt hat. Das war nicht meine eigene Weisheit. Und der Mann ließ mich in Ruhe. Aber ich wusste, dass ich weiterziehen musste."
Denkmal für die Weisheit der Großväter
Der Weisheit der Großväter hat Appelfeld mit "Sommernächte" ein Denkmal gesetzt. Dem noch unerfahrenen Janek bringt Sergej bei, dass man nie verzweifeln darf.
Gott hat uns hierhergeschickt, damit wir etwas über die Natur des Menschen lernen und zwischen Gut und Böse zu unterscheiden wissen, zwischen Gottesknechten einerseits und Blendern und Heuchlern andererseits. Unsere ganze Wanderschaft ist ein einziges Lernen. Gott lässt uns auf hingebungsvolle und verstockte Menschen treffen. Wir müssen uns das Schöne und Gute zu eigen machen und das Hässliche und Böse verdammen. Leseprobe
Klare Bilder und eine schöne, schlichte Sprache
Der gleichnishafte, fast sakrale Ton der Erzählung macht es manchmal schwer, sich mit den Figuren zu identifizieren und sich von der Geschichte fesseln zu lassen. Aber "Sommernächte" ist ja auch kein psychologischer Roman. Man muss ihn anders lesen - langsam. Man muss sich einlassen auf den ruhigen Rhythmus der Worte. Immer wieder innehalten und die Gedanken schweifen lassen.
Die einfachsten Einsichten sind oft die tiefsten. Und Aharon Appelfeld findet klare Bilder dafür sowie eine schöne, schlichte Sprache. Und natürlich ist der Roman auch ein Gleichnis. Über die Wirren des Krieges und über das Schicksal der Vertriebenen, über das Erwachsenwerden und das Weitergeben von Wissen oder - einfacher ausgedrückt: über das Leben.
Sommernächte
- Seitenzahl:
- 224 Seiten
- Genre:
- Roman
- Verlag:
- Rowohlt Berlin
- Veröffentlichungsdatum:
- 26. Januar 2022
- Bestellnummer:
- 978-3-7371-0124-0
- Preis:
- 22,00 €
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