Erzählungen von Helga Schütz: "Heimliche Reisen"
Als junge Autorin hat Helga Schütz vor allem Drehbücher für die DEFA geschrieben. Als ihre Arbeiten zunehmend von den Kontrolleuren abgelehnt wurden, verlegte sie sich mehr auf Romane und Erzählungen.
Frühjahr 1990. Die Begeisterung über den Fall der Mauer hält an: ungehindert von Potsdam nach Berlin fahren können, aussteigen nach Lust und Laune. Eine Schriftstellerin sitzt in der S-Bahn, ihr gegenüber ein vielleicht neunjähriger Junge.
"Ich roch, im übertragenen Sinne, aber auch direkt mit meiner Nase, dass er aus dem Kinderheim kam. Ein Gemeinschaftsküchengeruch, dazu Desinfektionslösung, Bohnerwachs und deutlich Fliederduft. Das Kinderheim befand sich im ehemals abgesperrten Grenzgebiet. Von zwei mächtigen Büschen, die das Portal des Vorgartens überwucherten, hatte ich kürzlich ein paar schöne lila Dolden abgebrochen."
Geschichten mäandern wie ein Gedankenfluss
Der Junge erzählt ihr, dass er seine Mutter am Alexanderplatz treffen wird. Die Erzählerin weiß, dass er lügt, und er merkt, dass sie ihn durchschaut. Beim Aussteigen ist der Junge sofort verschwunden, und sie fragt sich beunruhigt, wo er untertauchen wird. Ihre Gedanken enden in Schlesien, wo sie als Kind bei der Mohnernte geholfen hat, vom Naschen angeturnt, wie der Drogenabhängige am Bahnhof, der sie nach Kleingeld fragt.
Das ist typisch für diese Erzählungen von Helga Schütz. Sie beobachtet etwas aus der Nähe und zieht dann den Blickwinkel weit auf. Eine Geschichte kann mäandern wie ein Gedankenfluss. Dieses Gestaltungsprinzip erkennt man spätestens, wenn im Verlauf des Buches immer wieder die Sorge um den Ausreißer hochkommt.
"Ich habe nie versucht, eine grade Strecke zu gehen, denn da war nichts. Nichts in meinem Kopf und nichts in der Stadt."
Mit ihren Büchern gibt die Autorin Lebenserfahrungen weiter
Helga Schütz hat die ersten Lebensjahre in Schlesien verbracht, bevor sie als 7-Jährige zu den Großeltern nach Dresden evakuiert wurde. 1944 war das. Durch einen Zufall hat sie die Bombardierung der Stadt überlebt.
Diese Lebenserfahrungen gibt sie an ihre Erzählerin weiter, auch die Überwachung durch die Stasi oder ihre Pflanzenkenntnis. Manchmal sind es nur ein, zwei Sätze, die Vergangenes markieren, während sie mit dem Enkel in der Hängematte schaukelt. Sie lebt gerne im Hier und Jetzt, auch wenn sie neuerdings mit Steuererklärungen zu kämpfen hat.
"In mein Leben sind sie mit dem Einigungsvertrag gekommen. Sie stoppen einmal im Jahr für Tage, gar für Wochen meinen Lebenslauf. Arbeiten müssen unterbrochen werden. Ausflüge entfallen. Die Enkel bekommen kein warmes Essen."
Die berührendste Geschichte beginnt mit der Sanierung eines Sommerhauses. Die Erzählerin ist in einen verheirateten Mann verliebt und schwanger. Sie will ein Nest für die entstehende Familie schaffen. Ihr Vertrauen in das Gelingen wirkt so ansteckend, dass die Bauarbeiter Unvorstellbares leisten und das 1961 im Grenzgebiet. Das Glück hält nicht an, die kleine Tochter ist schwer krank, sie stirbt.
Letztendlich strahlen alle Geschichten Zuversicht aus
Der Vater des Kindes entzieht sich der gemeinsamen Trauer. Er geht in den Westen, zu einer neuen Frau. Wie sie mit dem Schmerz fertig wird, das dürfte Helga Schütz ihrer Figur aus eigener Erfahrung auf den Leib geschrieben haben. Sie läuft, sie schwimmt, sie reist, sie schreibt.
Manche Kapitel in diesem Band sind nur wenige Seiten lang, manche reichen für einen langen Leseabend.
"Manche Geschichten sind zum Wachbleiben und manche zum Einschlafen. Die gibt es, damit die Nacht vergeht oder die Kälte." Buchzitat
Sie handeln von Liebe, von Trauer, von Überraschungen und Entdeckungen, von Umwegen und Auswegen, sie spielen in Rom und in Wolfsburg, in Potsdam und in Ohio. Wenn man nur ein einziges Wort verwenden dürfte, um zu charakterisieren, was die Geschichten ausstrahlen, dann dieses: Zuversicht.
Heimliche Reisen
- Seitenzahl:
- 377 Seiten
- Genre:
- Roman
- Verlag:
- Aufbau
- Bestellnummer:
- 978-3351038922
- Preis:
- 24,00 €
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Romane
