"Frau Shibatas geniale Idee": Wenn Lügen sich selbstständig machen
Es reicht, findet Frau Shibata. Im Besprechungsraum türmen sich benutzte Kaffeetassen, in denen zerdrückte Zigarettenstummel schwimmen. Das aufzuräumen käme keinem ihrer Kollegen in den Sinn. Frau Shibata, Mitte 30, arbeitet in einer Firma in Tokio - als einzige Frau in einer Abteilung voller Männer. Sie ist hochqualifiziert, doch das interessiert hier niemanden. Ohne große Worte hat man sie verpflichtet, sich ums Aufräumen und Kaffeekochen zu kümmern.
Protagonistin erfindet ihre Schwangerschaft
Als die Kollegen sie wie üblich eines Morgens auffordern, die schmutzigen Tassen aus dem Besprechungsraum zu bringen, entscheidet sie, das Spiel nicht mehr mitzuspielen. Sie lügt und behauptet: Vom Kaffee- und Zigarettengeruch werde ihr übel: "'Ich bin schwanger.' - Jetzt hatte ich die Bombe platzen lassen."
Es ist eine stille Rebellion, zu der sich die Ich-Erzählerin im Debütroman der Japanerin Emi Yagi aufrafft. Durch ihren plötzlichen Entschluss, eine Schwangerschaft vorzutäuschen, verändert sie tatsächlich auf einen Schlag ihr Leben. Allerdings, ohne in die Konfrontation zu gehen, ohne offen die frauenfeindliche Haltung ihrer Mitmenschen zu hinterfragen. Sie spielt mit, bedient als umsorgenswerte Schwangere die Geschlechter-Klischees ihrer Umwelt und bricht entsprechend regelkonform aus. Erzählerisch ein genialer Kniff, der uns Leserinnen und Lesern ungeahnte Einblicke gibt. Sie macht früher Feierabend. Die Kollegen nehmen ihr unschöne Aufgaben ab. Man kümmert sich um ihr Wohl.
Vermutlich lief das alles nur so reibungslos, weil meine Vorgesetzten keinerlei Erinnerungen an die Schwangerschaften ihrer eigenen Frauen hatten. Leseprobe
Emi Yagi hat ein Gespür für Symbole und sprachliche Bilder
Um die falsche Schwangerschaft glaubwürdig erscheinen zu lassen, stopft Frau Shibata ihren Bauch aus, streichelt ihn demonstrativ in der Öffentlichkeit, macht mit beim Aerobic für Schwangere und lügt - weil alle Welt sie mit Fragen löchert - es werde ein Junge, der "Sorato" heißen soll, was übersetzt "leerer Mensch" bedeutet. Wunderbar ist Emi Yagis Gespür für Symbole und sprachliche Bilder. So stellt die Firma, in der die Hauptfigur arbeitet, Papierrollen her. Beim Besuch in der Fabrik zeichnen die Maschinen den Lauf des Lügens nach, der - einmal angestoßen - nicht mehr aufzuhalten ist
Die Schleifen rannten immer weiter. Wenn es jemand darauf anlegte, sie zu berühren, würden sie ihm die Finger abschneiden. So unnachgiebig waren sie. Sie ließen sich nicht beirren, rissen ohne Atempause die nächste Schleife mit, um langsam eine Schicht zu bilden. Es hatte etwas von der Unversöhnlichkeit und Eindringlichkeit einer Beschwörung. Wie wenn Worte neue Worte schufen und irgendwann eine Geschichte das Licht der Welt erblickte. Und so wurde in der dämmrigen Werkhalle der Bann weitergesponnen. Leseprobe
Viele Grautöne zwischen Wahrheit und Lüge
Allmählich beginnt auch Frau Shibata selbst an ihre Lüge zu glauben. Liebevoll spricht sie mit ihrem Bauch, notiert in einem Tagebuch ihre Schwangerschaftserfolge und malt sich gedanklich die Charakterzüge des neuen Menschen aus. Die herrliche Verwirrung wird komplett, als sich Indizien für eine echte Schwangerschaft häufen und wir beim Lesen nicht mehr wissen, was wir noch glauben können. Frau Shibata belügt ihre Mitmenschen, dann sich und am Ende sogar uns. Dramaturgisch clever, dieses unzuverlässige Erzählen. Ein frischer, feministischer Roman, der Spaß macht - und der die vielen Grautöne zwischen Wahrheit und Lüge klug auseinandernimmt.
Frau Shibatas geniale Idee
- Seitenzahl:
- 208 Seiten
- Genre:
- Roman
- Zusatzinfo:
- Aus dem Japanischen von Luise Steggewentz
- Verlag:
- Atlantik
- Bestellnummer:
- 978-3455012590
- Preis:
- 21,00 €
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Romane
