Stand: 23.02.2023 18:00 Uhr

1933: Machtantritt Hitlers und Durchsetzung der unumschränkten Herrschaft

von Hajo Funke, Politikwissenschaftler

Hitlers Erringung der Macht am 30. Januar 1933 war weniger Resultat eines vermeintlichen persönlichen Charismas als vielmehr der politisch-gesellschaftlichen Rahmenbedingungen sowie der Motive von Deutschen, die ihre Ängste und Erwartungen auf ihn projizierten und seinen Aufstieg damit möglich machten. (Thamer/Erpel 2010; Funke 2019: 36-40, Nachama 2021: 10-39, auch im Folgenden) Auch die staatlichen Institutionen haben die Republik nur schwach oder gar nicht verteidigt. Diese Verteidigung wurde umso schwieriger, je mehr der Einfluss der Reichswehr auf die Regierungspolitik wuchs und Reichspräsident Hindenburg im Sinne des Ausnahmezustands eine autoritäre Herrschaft durchsetzte. Die verzweifelte, sich nach neuer Größe sehnende und sich auflösende Gesellschaft, die Karl Jaspers 1931 beschrieb, suchte gleichsam einen Retter um jeden Preis. Hitler konnte den Straßenkampf zum Glaubenskampf stilisieren, Opfer solcher Kämpfe zu Märtyrern erklären, Schuldzuweisungen ideologisieren und sich selbst als "Führer" einer hinter ihm stehenden Glaubensbewegung inthronisieren. Aber nur mithilfe nationalkonservativer Bündnispartner konnte die NSDAP am 30. Januar 1933 die Macht übertragen bekommen. Bürokratie, Reichswehr und Wirtschaft ließen es in einer Mischung aus ideologischer Übereinstimmung und Partikularinteressen zu.

Vor allem unterschätzten sie die rechts-revolutionäre Intensität der NSDAP und die wachsende Zustimmung auch in bürgerlich-nationalen Gesellschaftsschichten. Ein Pakt mit dem Teufel, um eigene Interessen und das bisherige System erhalten zu wollen. In einem schnellen, überwältigenden Stakkato errichtete die NSDAP nach dem Machtantritt Adolf Hitlers am 30. Januar 1933 bis Mitte des Jahres ihre Herrschaft. Man arbeitete einem Führer "entgegen", der zugleich faszinierte, auf den die Hoffnung für den großen Neuanfang ruhte und der durch den schnellen Zugriff zu staatlichem Terror sich die Herrschaft sicherte.

In den Wochen nach der Ernennung Hitlers zum Reichskanzler wurden in präzedenzloser Geschwindigkeit Verfassungsstaat und Rechtsordnung zerstört, Länder und Gemeinden gleichgeschaltet, Parteien und Verbände aufgelöst und ein großer Machtkomplex aus Gestapo und SA errichtet. Schon Anfang Februar wurde die erneute Auflösung des Reichstags vorgenommen, am 4. Februar die Verordnung erlassen, die es erlaubte, jederzeit Versammlungen zu verbieten und die Pressefreiheit einzuschränken. Am 12. Februar wurde der Wahlkampf gestartet, um die Auferstehung der Nation als Beschwörung des Neuen, die Erlösung durch den Retter, das "Dritte Reich" zu feiern. Am 17. Februar erfolgte der Schießerlass durch den Innenminister Preußens, Hermann Göring, mit dem die preußische Polizei rücksichtslos und mit der Schusswaffe gegen politische Gegner vorgehen durfte. Am 22. Februar wurden Zehntausende Angehörige von SA, SS und Stahlhelm zu Hilfspolizisten erklärt. Nach dem Reichstagsbrand vom 27. Februar folgte eine umfangreiche Verhaftungswelle. In der Reichstagswahl am 5. März erreichten die Nationalsozialisten etwa 44 Prozent der Stimmen. Am "Tag von Potsdam" zwei Wochen später wurde die Verbindung von Wehrmacht und Tradition einerseits und dem Nationalsozialismus andererseits propagandistisch inszeniert. Am 24. März wurde das "Ermächtigungsgesetz" durchgepeitscht, mit dem Adolf Hitler de facto ohne Zustimmung des Reichstags, Reichsrats und Reichspräsidenten Gesetze erlassen konnte - Legislative und Exekutive lagen nun in seinen Händen. Der reichsweite Geschäftsboykott am 1. April sollte dem In- und Ausland zeigen, gegen welchen "Feind" sich die NS-Herrschaft insbesondere richtete: gegen Jüdinnen und Juden in Deutschland und in der Welt. Am 1. Mai schließlich folgten etwa eine Million begeistert dem Aufruf, sich auf dem Tempelhofer Feld zu versammeln, um am nächsten Tag die Gewerkschaften verboten zu sehen. Mit der Bücherverbrennung am 10. Mai übergab das NS-Regime "unerwünschtes" Schriftgut dem Feuer. Im Juni und Juli schließlich wurden die bürgerlichen Parteien aufgelöst, die linken Parteien verboten. Die NSDAP hatte die Alleinherrschaft errungen.

Mitte Oktober 1933 trat Deutschland aus dem Völkerbund aus, nachdem der britische Außenminister einen Abrüstungsplan vorgelegt hatte, der als diskriminierend gegenüber Deutschland interpretiert wurde. In der Reichstagswahl am 12. November erreichte die NSDAP als einzige zugelassene Partei angeblich 92,1 Prozent der Wählerstimmen.

Kujau-Hitler zu 1933:

In der ihm eigenen dürftigen Sprache "berichtet" auch Konrad Kujau für das Jahr 1933 über die Erfolge des Nationalsozialismus. Er berichtet von der Ernennung Hitlers zum Reichskanzler, ereifert sich über den den Kommunisten zugeordneten Reichstagsbrand, lässt Hitler gegen alle Empirie die Vorläufer des Aprilboykotts kritisch beobachten (er habe Boykotteure gar "zurückpfeifen" müssen) und behauptet, Hitler habe die Bücherverbrennung vom 10. Mai abgelehnt.

Der 30. Januar 1933

Kujau zum Machtantritt Hitlers, TB 28.1.–30.1.1933:

"28. Heute gegen mittag ist Schleicher zurückgetreten. 29. Reichspräsident beauftragt Papen mit der Klärung der politischen Lage. Gegenmaßnahmen gegen Schleichers Putschabsichten. Nationale Einigung gelungen! Nun ist mein Weg frei!!
30. Nachtrag vom 31. Am gestrigen Tage gegen 1/2 10 Uhr wurde ich zum Reichspräsidenten gerufen. Der alte Herr bat um die Vorlage meiner Kabinettsliste. Ich wurde zum Reichskanzler berufen! Die Reichsregierung wurde nun gebildet und am frühen Nachmittag auch gleich vereidigt. (…) In den nächsten Tagen schon wird es sich zeigen, ob es der Reichspräsident uns gegenüber so ehrlich meint, oder ob er es nur für eine kurze Notlösung gehalten hat, mir die Kanzlerschaft anzutragen. So schnell geben wir die Macht nicht mehr aus den Händen, komme da, was da wolle. Ich glaube auch, ich habe das Vertrauen des Reichspräsidenten auf meiner Seite. (…) Am gestrigen Abend dann, konnte man erleben, was für eine Hoffnung im ganzen Volk besteht und wie das deutsche Volk über unsere Machtergreifung denkt. Tausende und abertausende zogen unter den Fenstern vorbei und wollten mich sehen. Die Telegramme und Glückwünsche und Hoffnungsschreiben füllen ganze Räume. Deutsches Volk, ich kann dir nun versprechen, ich werde dich mit deiner Hilfe aus dieser schweren Not, aus deiner nationalen Not befreien. Gib mir Zeit und gib mir dein Vertrauen und Hilfe!"

Reichstagsbrand am 27. Februar 1933

Der Reichstagsbrand wurde dem jungen niederländischen Kommunisten Marinus van der Lubbe zugeordnet, womöglich aber von den Nationalsozialisten ausgelöst oder gar durchgeführt. Die Kontroverse dazu hält an. Es war auf alle Fälle ein Ereignis, wie es den Nationalsozialisten nicht besser hätte in die Hände spielen können. Schon am nächsten Tag unterschrieb Hindenburg die von Hitler vorgelegte "Notverordnung zum Schutz von Volk und Staat" (Reichstagsbrandverordnung), die die Grundrechte der Weimarer Verfassung außer Kraft setzte, der Polizei weiterreichende Vollmachten gab und zum wirksamsten Instrument der Nationalsozialisten zur Unterdrückung ihrer politischen Gegner wurde. Bereits am nächsten Tag wurden bekannte Kommunisten und Oppositionelle festgenommen, die meisten Wahlversammlungen von KPD und SPD verboten.

Zum Reichstagsbrand beschreibt Kujau einen überraschten Hitler:

TB 27.2.1933: "Besprechungen mit Göring. Gebe die letzten geheimen Richtlinien für die Wahl am 5. März heraus. Am Abend bin ich bei Goebbels eingeladen, auch Hoffmann ist da. Meine Unterhaltung mit Frau Goebbels wird durch einen Telephonanruf gestört, am Apparat ist Hanfstaengel, er verlangt mich zu sprechen. Was er mir zu sagen hat, kann ich einfach nicht glauben. Er schreit auf meine Frage nochmals in den Apparat: Das Reichstagsgebäude brennt! Durch einen Blick durchs Fenster sehen wir den Feuerschein. Ich fahre sofort mit Goebbels zum Reichstag. Die Feuerwehr hat schon gute Arbeit geleistet. Treffe am Reichstag auf Göring. Nach ung. 20 Minuten wird Göring ein festgenommener Mann zum Verhör gebracht. Ich kann nichts anderes tun in meiner ohnmächtigen Wut als warten. Fahre so gegen Mitternacht in die Räume des VB. um wenigstens etwas zu tun und mich etwas mit meinen Gedanken abzulenken. Verfasse dort den Leitartikel für den VB. selbst. Gebe offen in meinen Leitartikel die nun kommenden harten Maßnahmen gegen unsere Gegner, besonders gegen die Kommunisten bekannt. Denn schon als ich auf der Fahrt zu den Räumen des VB. war wurde mir bewußt, daß der Brand des Reichstages das Letzte gewesen ist was diese Marxisten gegen uns unternehmen, und unternommen haben. Wer soweit geht in seinem Haß, muß mit der Wurzel ausgemärzt werden. Bei einem morgentlichen Telephongespräch mit Göring und Goebbels ordne ich ein sofortiges hartes Durchgreifen an. Aber mein getreuer Göring hat schon die ersten Maßnahmen eingeleitet. 28. Verordnung des Reichspräsidenten zum Schutz von Volk und Staat. Persönliches. Meine Gesundheit läßt durch die Anspannungen der letzten Wochen sehr zu Wünschen übrig. Es liegt auch mit an den unregelmäßigen Mahlzeiten und unregelmäßigen Schlaf. Nun habe ich mehr Feinde als Führer nur einer Partei. Aber die Feindschaften gerade, spannen mich immer an, und auch jetzt merke ich wie sich bei mir innen etwas rührt, wenn mir wiedereinmal ein mir nicht gut gesinnter Pressebericht vorgelegt wird. Obwohl gerade Reichskanzler, habe ich E's Geburtstag nicht vergessen, hat sie sehr gefreut. Adolf Hitler"

Die Tagebuch-Notizen von Joseph Goebbels vom 27. Februar 1933 beschreiben ganz ähnlich den Reichstagsbrand und die Reaktionen von Hitler, Göring und Goebbels. Demnach nutzten sie das Ereignis, um die gesamte kommunistische und sozialdemokratische Presse zu verbieten; in einer Kampagne geht es um die sogenannten "roten Mordbrenner", die "marxistische Weltpest". (Reuth, 2. Bd., 1992: 768 f.)

"Tag von Potsdam" am 21. März 1933

Trotz aller Bemühungen, die Opposition auszuschalten, erhielt die NSDAP am 5. März, der letzten nicht mehr "freien" Reichstagswahl, keine absolute Mehrheit. Am 13. März wurde Joseph Goebbels zum neuen "Reichsminister für Volksaufklärung und Propaganda" ernannt. Der "Tag von Potsdam" wurde am 21. März 1933, zu Frühlingsbeginn, als Tag nationaler "Versöhnung" und der neuen nationalsozialistischen Herrschaft zelebriert. (Funke 2019: 42 ff., auch im Folgenden) Der Anlass war die Konstituierung des neugewählten Reichstags. Propagandaminister Joseph Goebbels hatte die Idee, zur Konstituierung des neuen Reichstags einen Staatsakt an den Erinnerungsort von Preußens Glanz und Gloria zu verlegen und dort ein historisches Schauspiel zu inszenieren. Am 21. März 1871 war in einer Reichstagssitzung das zweite deutsche Reich offiziell inauguriert worden - nun war es am Tag von Potsdam das "Dritte Reich". Die Konstituierung fand dann am Nachmittag in der Berliner Krolloper statt. Das Programm hatte gewissermaßen einen Wagnerschen Subtext und kulminierte in einer Festaufführung der "Meistersinger von Nürnberg" in der preußischen Staatsoper. (Vaget 2017: 169) Zugleich handelte es sich mit der Inszenierung dieser Oper um die propagandistische Verwertung des Wagner-Kults und um die Aufforderung, das nationalsozialistische Deutschland im Geiste der "Meistersinger" zu gestalten. Der "Völkische Beobachter" kommentierte: "Ein würdigerer Abschluss des 21. März 1933 ist undenkbar." Die Aufführung sollte das Gefühl für die "deutsche Volksgemeinschaft" stärken. Herausgestellt wurde der Stolz auf die deutsche Kultur, dies allerdings in einer von Judenfeindschaft gesättigten Atmosphäre. Einen Tag später wurde in Dachau das erste große Konzentrationslager eröffnet.

Kujau zum "Tag von Potsdam":

TB 21.3.1933: "Eröffnung des Reichstages in Potsdam. Ich stelle es allen frei, an den beiden Gottesdiensten teilzunehmen. (…) Nach den Worten des Reichspräsidenten ergreife ich das Wort. Am Ende des Staatsaktes, Vorbeimarsch der nationalen Verbände und der Reichswehr. Am Nachmittag gegen 5 Uhr erste Reichstagssitzung in der Krolloper. Verordnung des Reichspräsidenten zur Abwehr heimtückischer Angriffe gegen die Regierung der nationalen Erhebung. Bildung von Sondergerichten. Straffreiheit für Straftaten, die im Kampf um die nationale Erhebung des deutschen Volkes oder im Kampf um die deutsche Scholle begangen wurden."

Von Adolf Hitlers Faszination für Richard Wagners Überwältigungsästhetik ist bei Kujau am "Tag von Potsdam" nichts zu lesen, aber auch an keiner anderen Stelle der "Tagebücher". Kujau-Hitler notiert zu Wagner nur kurz und knapp folgende Passagen - lediglich insgesamt fünf in allen "Tagebüchern":

TB 12.2. 1933: "Wagner-Gedenkfeier in Leipzig."

TB 12.8.1933: "Wagner-Feier in Neuschwanstein."

TB 6.3.1934: "Grundsteinlegung zum Richard-Wagner Nationaldenkmal in Leipzig. Besuch einiger Ausstellungen."

TB 22.5.1938: "Erlaß über die Einrichtung einer Richardt (sic)-Wagner-Forschungsstätte in Bayreuth."

TB 27.7.1939: "Empfang im Hause Wanfried. Werde wenn möglich mir die bedeutendsten Aufführungen der Wagnerischen Werke ansehen."

Adolf Hitler war von den Musikdramen Wagners seit seiner Pubertät beeindruckt. Wagner war sein kultureller Herold, Mentor und Ahnherr zugleich. Deswegen lassen sich Wagners Werke auf den großen Masseninszenierungen der Nationalsozialisten finden.

"Ermächtigungsgesetz" am 23. März 1933

Zwei Tage später wurde in der ersten Sitzung des neuen Reichstags mit überwältigender Mehrheit das "Ermächtigungsgesetz" angenommen, das die Lahmlegung, wenn nicht die Abschaffung der Verfassung der Weimarer Republik besiegelte.

Auch die entscheidende Erringung der Macht durch das "Ermächtigungsgesetz" geht bei Kujau fast unter:

TB 22. - 24.3.1933: "22. Eröffnung des Preußischen Landtags. Preußische Verordnung zur Behebung von Mißständen in der gemeindlichen Verwaltung. Tag des Buches. Besprechungen mit Goebbels und Göring. 23. Zweite Sitzung des Reichstages. Ich verkünde das neue Regierungsprogramm. Der Reichstag nimmt das Ermächtigungsgesetz an. Gründung des Reichsverbandes ‚Deutsche Bühne‘ Krukenberg neuer Rundfunkkommissar. 24. Gesetz zur Behebung der Not von Volk und Reich. Lange Gespräche mit Dr. Goebbels."

Boykott am 1. April 1933

Der amtlich organisierte Aufruf zum Boykott jüdischer Geschäfte und Warenhäuser am 1. April war ein erster Schritt hin zur Einführung antisemitischer Gesetze. Schon in den ersten Monaten des NS-Regimes wurde der autoritäre Charakter dieser Politik klar: Man projizierte in die Juden alle gegen die Deutschen, gegen Hitler und den Nationalsozialismus wahrgenommenen Übel, weswegen diese kurz- und langfristig abgeschafft werden müssten. Dennoch glaubte die Mehrheit der deutschen Bevölkerung zunächst, dass dies alles vorübergehend sei und nicht das bereits in "Mein Kampf" beschworene Ende der Juden in Deutschland und Europa bevorstehe.

Bereits am 7. März hatten nationalsozialistische Parteiaktivisten eine Welle antisemitischer Ausschreitungen ausgelöst - sie beschmierten und blockierten jüdische Geschäfte, behinderten jüdische Juristen und übten in einer Reihe von Fällen Gewalt gegen jüdische Bürger aus. (Longerich 2001: 43) Hitler war in dieser Phase nicht der Getriebene, sondern der maßgebliche Antreiber. (Wildt 2007: 44) Das war daran zu erkennen, dass er sich am 10. März zwar in einem Aufruf gegen derartige Einzelaktionen wandte, wodurch die Ausschreitungen zum Stillstand kamen. Umgekehrt wurde aber die Propagandamaschine angeworfen, um die Parteibasis zu dem groß angelegten Boykott jüdischer Geschäfte am 1. April zu treiben.

Erneut findet sich bei Joseph Goebbels die radikalantisemitische Verschwörungsfantasie, in der die Juden in Deutschland wie in den Vereinigten Staaten in eins gesetzt werden und gegen die vermeintliche "Greuelhetze" eines "zersetzerischen" Judentums ein fulminanter Boykott entfesselt werden sollte: "Vielleicht werden sich dann die ausländischen Juden eines Besseren besinnen, wenn es ihren Rassegenossen in Deutschland an den Kragen geht." (Zit. n. Reuth, 2. Bd., 1992: 785 f.)

Kujau-Hitler erscheint es wichtig, über den Aprilboykott und seine Vorläufer zu spekulieren und Hitler zu entlasten. Er habe seine Leute "zurückpfeifen" müssen und zugleich einen Erfolg des Aprilboykotts im Ausland beobachtet:

TB 31.3.1933: "(…) Auch wird der Aufruf gegen uns des Weltjudenführers den Juden selbst schaden, als vielmehr uns. Mußte schon in einigen Städten und Ländern unsere Menschen zurückpfeifen, um nicht größere Ausschreitungen gegen Juden zu dulden. Werde in den nächsten Tagen aber den Juden einen Denkzettel verpassen!"

TB 1. - 3.4.1933: "1. Abwehrboykott gegen Gräuelpropaganda und Boykotthetze. Aufruf alle jüdischen Einrichtungen im ganzen Reiche zu boykottieren. Bekomme am Abend die ersten Meldungen der Reaktion im Auslande gegenüber unseres Judenboykotts. 2. Besprechungen mit Kabinettsmitgliedern. Weitere Meldungen wegen unserer Maßnahmen treffen ein. 3. Beginn der 1. Reichstagung der Glaubensbewegung Deutsche Christen. Die Hetze im Ausland gegen uns gerade von jüdischer Seite ist fast verschwunden."

Judenfeindliche Aktionen waren schon seit der Mitte der Zwanzigerjahre, mit zunehmendem Maße gegen Ende der Republik von den Nationalsozialisten betrieben worden. (Wildt 2007: 74-99) Der Boykott vom 1. April war im Sinn der Nationalsozialisten teilweise erfolgreich; die Absicht, die internationale Kritik am nationalsozialistischen Deutschland durch den Terror gegen Jüdinnen und Juden im Aprilboykott, also durch Einschüchterung, die auch das internationale Judentum betreffe, einzuschränken, erfüllte sich aber kaum. Im Gegenteil: Die internationale Kritik verschärfte sich dadurch eher. In jedem Fall brach Goebbels (und Hitler) die Boykottaktion nach dem 1. April ab und konzentrierte sich in den folgenden Tagen und Wochen auf gesetzliche Aktionen zur Einschnürung eines freien Lebens von Juden. Mit dem "Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums" vom 7. April 1933 konnten "nichtarische" Beamte in den Ruhestand versetzt werden. "Nichtarisch" war nach dem Gesetz, wer von einem Eltern- oder Großelternteil jüdischen Glaubens abstammte. Im Mai wurde ein "Ariernachweis" auch von Arbeitern und Angestellten des öffentlichen Dienstes gefordert. (Nachama 2021: 23–25)

Die antisemitische Strategie des NS erreichte unmittelbar nach den Märzwahlen 1933 mit dem Boykott jüdischer Geschäfte am 1. April ihren ersten Höhepunkt. In den Jahren 1933 und 1934 wurden Juden systematisch aus dem öffentlichen Leben verdrängt, seit 1935 durch eine Politik der Segregation und umfassenden rechtlichen Diskriminierung. Es folgten die völlige Entrechtung, die schrittweise Enteignung jüdischen Vermögens und die Forcierung der Vertreibung der Juden (zunächst) aus dem Deutschen Reich. Dabei gehorchte diese Politik zwischen 1933 und 1939 einer einfachen Mechanik. Man leitete antisemitische Ausschreitungen der Parteibasis ein, um diese jeweils nach relativ kurzer Zeit aufgrund expliziter Anweisung Hitlers von Partei und Staatsorganen in "geordnete" Bahnen zu lenken. Auf die (inszenierten) Ausschreitungen im März 1933 "reagierte" die NS-Führung mit dem Boykott vom 1. April, auf die erneuten antisemitischen Unruhen im Frühjahr und Sommer 1935 mit den "Nürnberger Gesetzen", auf die Ausschreitungen im Oktober/November 1938 mit einer Flut bedrängender antisemitischer Gesetze und der vollkommenen Enteignung. Es handelte sich um ein Zusammenspiel von Aktionen von unten und Maßnahmen von oben unter der Direktion der Führung. (Ebd.)

Bücherverbrennung am 10. Mai 1933

Zur reichsweiten Bücherverbrennung von "unerwünschten" Schriften, organisiert vom Nationalsozialistischen Deutschen Studentenbund und der Deutschen Studentenschaft, am 10. Mai 1933 unter anderem auf dem Berliner Opernplatz behauptet Kujau:

TB 10. - 11.5.1933: "(…) Dr. Goebbels hat die öffentliche Verbrennung von Büchern bef., so etwas Dummes. Konnte es nicht mehr verhindern. Was wird das Ausland wieder dazu sagen? 11. Ernstes Gespräch mit Dr. Goebbels! Besprechungen mit Partei-Führern."

Und in einem Nachtrag am 31.5.: "Persönliches. Mit der Verbrennung der Bücher hat Goebbels keinen guten Einfall gehabt. Habe oft mit Hoffmann darüber gesprochen, der er seine Verbindungen ins Ausland hat. Habe auch auf Hoffmanns Wunsch, hinter dem bestimmt E. steckt einige Schriftsteller von Goebbels Liste streichen lassen. Was hat sich dieser kleine Hexenmeister nur dabei gedacht?"

Für Kujaus Behauptung, Hitler sei gegen die Bücherverbrennung gewesen, finden sich keine seriösen Belege. Die Bücherverbrennung ist auch nicht von Goebbels, sondern vom nationalsozialistischen Deutschen Studentenbund organisiert worden. Hitler hat den "kleinen Hexenmeister" (Kujau) mit seinem radikalen Antisemitismus im Gegenteil ermutigt. Auch die Rede von "was wohl das Ausland sage" entsprach nicht der Ideologie und Strategie Adolf Hitlers.

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