Medizinerin Franziska Tiburtius: Eine Frau setzt sich durch
Sie setzt sich gegen die Vorurteile von männlichen Kollegen durch und studiert Medizin - für Frauen im 19. Jahrhundert "undenkbar". Die auf Rügen geborene Franziska Tiburtius eröffnet 1877 in Berlin eine eigene Praxis.
Ihre Lebenserinnerungen enden treffend: "Mein Leben war köstlich, denn es ist Mühe und Arbeit gewesen." Tatsächlich ist der Weg von Franziska Tiburtius geprägt von männlichen Ressentiments und einer Welt, in der Frauen vom Lernen abgehalten werden, weil das angeblich den Körper schädige. Doch sie trotzt diesen Schikanen und erstreitet für Frauen einen Platz in der Medizin.
1843 auf Rügen geboren
Franziska Tiburtius wird am 24. Januar 1843 als neuntes Kind eines Gutspächters in Bisdamitz auf der Ostseeinsel Rügen geboren. Reich ist die Familie nicht, Franziska und ihre Geschwister müssen auf dem Hof mithelfen, Tiere füttern und andere Arbeiten übernehmen. Insbesondere mit ihrem Bruder Karl verbindet sie schon früh eine tiefe Beziehung - später wird er noch entscheidend für ihren Lebensweg sein. In Stralsund besucht Franziska Tiburtius eine private Mädchenschule. Eine große Berufsauswahl hat sie damals nicht, so wird sie mit 17 Jahren Erzieherin.
"Wenn eine Frau zu viel weiß, dann wird das Gehirn geschädigt"
"Schon damals will Franziska alles wissen und auch selbst für ihren Unterhalt sorgen", sagt Barbara Sichtermann, Autorin von "Fräulein Doktor im Kaiserreich. Die Lebensgeschichte der Franziska Tiburtius". "Allerdings werden Frauen damals regelrecht vom Wissen ferngehalten. Es hieß, wenn eine Frau zu viel weiß, dann wird das Gehirn geschädigt und womöglich die Gebärmutter. Das kann man heute gar nicht mehr glauben."
Bruder glaubt an ihre Fähigkeiten
Franziska Tiburtius wird später Lehrerin in Rambin auf Rügen, unterrichtet dann auch in England. Ihr Bruder Karl allerdings erkennt in ihr eine andere Berufung: Er war "nicht recht einverstanden; er glaubte in mir eine gewisse Befähigung für den ärztlichen Beruf zu entdecken, und schon bevor ich nach England ging, hatte er versucht, mir diesen Gedanken nahezulegen", so Franziska Tiburtius in ihren Aufzeichnungen "Erinnerungen einer Achtzigjährigen".
Männer reagieren mit Lärm, Schreien, Johlen, Pfeifen
In Deutschland ist 1871 ein Medizinstudium für Frauen nicht möglich, in Zürich dagegen dürfen Frauen Vorlesungen besuchen und sogar promovieren. Franziska Tiburtius wagt den Schritt, merkt allerdings schnell, wie schwer es wird - wobei es nicht der Lernstoff ist, der zum Problem wird: "Bei unserem ersten Erscheinen im Präpariersaal gab es einen unangenehmen Auftritt: Als wir eintraten, erhob sich ein wüster Lärm, Schreien, Johlen, Pfeifen; da hieß es ruhig Blut behalten", erinnert sich Franziska Tiburtius an das männliche Gebaren gegenüber ihr und ihrer Kommilitonin. Sie trifft auch hier wieder auf Vorurteile: "Frauen haben nicht die körperliche Konstitution, um diesen Beruf auszuüben, hieß es", erklärt die Medizinhistorikerin Sabine Schleiermacher von der Charité in Berlin. "Die Gehirnmasse bei Frauen sei geringer. Sie hätten also nicht den Intellekt, patientenadäquat zu behandeln, so die krude These."
Trotz der männlichen Vorurteile blüht Franziska Tiburtius im Medizin-Studium regelrecht auf, denn einige Professoren setzen sich für sie ein und fördern sie. Am 16. Februar 1876 macht sie den Doktor mit der Note "sehr gut". Sie geht danach erst nach Dresden und dann nach Berlin, wo sie sich 1877 niederlässt und zunächst mit ihrer Schwägerin, der Zahnärztin Henriette Pagelsen-Hirschfeld, eine Gemeinschaftspraxis führt.
Eine Poliklinik für Frauen und Kinder
Mit ihrer Kollegin Emilie Lehmus, die sie aus Zürich kennt, plant sie eine eigene Praxis in Berlin. Allerdings gelten sie hier nicht als "richtige" Ärztinnen, sondern eher als Heilpraktikerinnen. 1878 eröffnen sie dennoch die erste Praxis weiblicher Ärzte in Deutschland. Auf dem Türschild steht: "Dr. med. in Zürich". Es ist eine Poliklinik speziell für Frauen und Kinder, denn Frauen sind damals medizinisch unterversorgt. Vor allem bürgerliche Männer haben eine gute medizinische Versorgung, viele Frauen dagegen arbeiten als Dienstmädchen oder schlecht bezahlt in Fabriken. "Franziska Tiburtius wollte sich ganz bewusst um diese Frauen kümmern. Sie fühlte sich als Ärztin verpflichtet", beschreibt Schleiermacher.
"Konsultation 10 Pfennige, für Unbemittelte kostenlose Arznei", steht an ihrer Praxis, arme Frauen müssen also gar nichts bezahlen. Ihre gute Arbeit spricht sich herum, schnell werden auch Patientinnen aus der bürgerlichen Schicht auf sie aufmerksam - die können auch mehr zahlen. Vorher schicken die reichen Damen dann noch schnell ihre Dienstmägde vor, um die Praxis und Franziska Tiburtius zu überprüfen.
Nach Lebensbedingungen der Frauen gefragt
Franziska Tiburtius will mehr, als nur Erkrankungen behandeln: "Sie hielt sich nicht nur an die naturwissenschaftlich-orientierte Medizin, wie es damals an Universitäten gelehrt wurde. Sie hat auch nach den Lebensbedingungen der Frauen gefragt", erklärt Medizinhistorikerin Schleiermacher. Und mehr noch: Sie ändert auch die medizinische Perspektive gleich mit: "Die Medizin war immer am männlichen Körper orientiert, das Fachwissen speiste sich nur aus Ergebnissen der Betrachtung des männlichen Körpers. Und Tiburtius und ihre Kolleginnen haben die Perspektive dahingehend eröffnet, dass sie sich spezifischen Krankheiten von Frauen gewidmet haben", so Schleiermacher.
Vorkämpferin mit Verzögerung

Mehr als 30 Jahre praktiziert Franziska Tiburtius in Berlin. Mit ihrer Geschichte und ihrer weithin anerkannten Arbeit in der Klinik ändert sich ihre Rolle: sie wird zum Vorbild für Frauen und beginnt öffentlich über Gleichberechtigung zu sprechen. "Mit der Frauenbewegung, die damals entsteht, hat Franziska zunächst gar nichts im Sinn", sagt Barbara Sichtermann. "Die Vereinsmeierei und die lauten Töne missfallen ihr. Aber sie lernt dazu und versteht eines Tages: Ohne die Solidarität der Frauen kommt sie nicht weiter."
Auch heute zu wenige Ärztinnen in Spitzenpositionen
Durch ihren Erfolg hat Franziska Tiburtius dazu beigetragen, dass sich das gesellschaftliche Klima ändert, bald schon werden auch in Deutschland Frauen zum Medizin-Studium zugelassen. "Allerdings", so Schleiermacher, "Benachteiligung und Gleichberechtigung von Ärztinnen sind Thematiken, die seit 100 Jahren beständig sind". Erst im Oktober 2024 stellte der deutsche Ärztinnenbund fest: "Die aktuellen Themen sind fehlende Parität in den Gremien und zu wenige Ärztinnen in Spitzenpositionen, besonders auch an den Universitätskliniken."
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