Stand: 12.08.2006 18:00 Uhr

Interview mit Günter Grass

Zwei Jahrzehnte fasst Günter Grass' Erinnerungsbuch "Beim Häuten der Zwiebel" ins Auge - den Zeitraum zwischen 1939 und 1959. Bei Ausbruch des Zweiten Weltkrieges war der Autor 12 Jahre alt. 1959 markierte die Veröffentlichung seines Romans "Die Blechtrommel" den Beginn einer internationalen Karriere. Drei Jahre lang hat Günter Grass an dem jetzt vorliegenden autobiographischen Band gearbeitet. Aus seinem Eingeständnis, Mitglied der Waffen-SS gewesen zu sein, hat die Frankfurter Allgemeine Zeitung eine isolierte Nachricht gemacht. Die Medienkarriere dieser Nachricht überrascht den Schriftsteller. Stephan Lohr, Redakteur von NDR Kultur, hat Günter Grass auf seine Schwierigkeit angesprochen, sich selbst als Hauptfigur seines neuen Buches zu beschreiben. Hier der Wortlaut des Interviews.

Günter Grass: Das ist der Versuch einer Annährung an eine eher fremde und erdrückte Person gewesen und nur mit Hilfe der Zwiebel, mit der Erinnerung bestimmter Situationen wie ich z. B. 1958 zum ersten Mal von Paris nach Danzig wieder fahren durfte und in der Stadtbibliothek sitze, sehe ich ihn quasi als Jungen dort, als 13-jährigen in der Bibliothek an den Lesetischen sitzen. Und das sind so Momente, in denen er mir wieder fassbar wird und dann verschwindet er wieder. Ich muss ihn immer wieder mit Hilfe der Erinnerung oder wie es heißt mit dem Häuten der Zwiebel herbeizitieren, und er wehrt sich dagegen und das sind Annährungen, das ist ein ungeheuerer Zeitraum.

Stephan Lohr: Sie bemühen die Zwiebel-Metapher ja schon im Titel des Buches "Beim Häuten der Zwiebel" und Sie selbst weisen darauf hin, dass beim Zwiebelschneiden einem auch die Tränen in die Augen schießen. Das verwischt ja manchmal auch den Blick. Also das Häuten der Zwiebel sind nicht nur die Gedächtnisschichten, die frei werden, sondern manchmal auch der unscharfe Blick?

Grass: Dass die Erinnerung uns auch täuschen kann, das versuche ich mitzuschreiben, dass sie dazu neigt, die Dinge zu schönen oder zu dramatisieren oder verwickelte Fakten so zu ordnen, dass eine Anekdote daraus wird, erzählbar wird. Dieses Misstrauen der Erinnerung gegenüber, das Gedächtnis wiederum, wenn es dann etwas aufbewahrt hat, ist pedantischer. Also auch den Gegensatz zwischen Gedächtnis und Erinnerung versuche ich mit literarischen Mitteln zum Teil auch in Gegensatz zu bringen.

Lohr: Herr Grass, Ihre Mitteilung, von Herbst/Winter 1944 ein Mitglied der Waffen-SS gewesen zu sein, bewegt, das bekommen Sie auch mit, international inzwischen die Gemüter. Für Sie war das damals kein Skandalon, das schreiben Sie deutlich. Heute sprechen Sie von Makel und Scham. Wann ist Ihnen klar geworden, daß die Waffen-SS weniger eine Eliteeinheit als vielmehr eine Verbrecherbande war?

Grass: Nach dem Krieg, und zwar so, wie die Informationen auf mich und auf viele Menschen zukamen. Wir erfuhren ja immer mehr von den Greueln, von den Geiselerschießungen, von den Beteiligungen an den Judenmorden. Das sind alles Dinge, die im Verlauf der Jahrzehnte dieses von uns Deutschen begangene Verbrechen eigentlich in eine immer größere Dimension gesteigert haben. Das hat ja bis heute nicht aufgehört, aber zu dem damaligen Zeitpunkt habe ich das nicht gesehen und nicht begriffen. Für mich ist es auch im Umgang mit mir selbst oder mit dem Jungen und dem jungen Mann. Wenn Sie das Buch ja jetzt gelesen haben, werden Sie merken, dass ich mir bestimmte Dinge viel stärker vorwerfe, als dass ich hineingeraten bin in die Waffen-SS, z. B., dass ich versäumt habe, nach dem Erschießungstod meines Onkels, der bei der polnischen Post war, Fragen zu stellen, als mein Mitschüler Wolfgang Heidrichs verschwand, habe ich nicht die entscheidenden Fragen gestellt, als ein Lehrer von der Schule verschwand und im KZ landete und dann wenige Monate später wieder kam und nicht darüber sprach, haben wir und ich keine Fragen gestellt. Es gibt ein ganzes Kapitel, das heißt "Wir tun so was nicht". Es handelt von meiner Zeit beim Arbeitsdienst, und da gab es einen, der gehörte zu den Zeugen Jehovas, der sich selbst nicht artikulieren konnte, nur einen Satz sagte er: "Wir tun so was nicht" und er hat kein Gewehr angefasst, er ließ es fallen und er wurde geschliffen. Wir haben ihn einerseits bewundert, und auch ich habe ihn bewundert und die anderen auch, aber auch gehasst, weil er sich weigerte und wir mit ihm mitgeschliffen wurden. Auch das hat mich nicht zur Einsicht gebracht. Das sind eigentlich die Dinge, die Momente, wo ich am kritischsten mit mir umgehe.

Lohr: Und wie erklären Sie sich, Günter Grass, das beschreiben Sie ja sehr genau, das sagen Sie ja in dem Buch, dass Sie nicht mal rumgefragt haben, diesen Widerspruch ihrer Aufsässigkeit, dieser aufsässige Junge, der Sie auch waren, und der Anpassung andererseits?

Grass: Das ist diese ideologische Verblendung gewesen und der offenbar durch nichts zu erschütternde Glaube, dass es eine gerechte Sache ist, für die Deutschland von Feinden umringt kämpft und die bolschewistische Flut, das war jedenfalls in meiner jugendlichen Umgebung unumstritten.

Dieses Thema im Programm:

NDR Kultur | Das Gespräch | 12.08.2006 | 18:00 Uhr

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