Annemarie Dose: Hamburgs weiblicher Robin Hood
Am 7. November 1994 gründet Annemarie Dose die Hamburger Tafel. Der Verein sammelt überschüssige Lebensmittel und verteilt sie an Bedürftige. Die engagierte Helferin stirbt 2016 im Alter von 87 Jahren.
"Ami" nennen sie ihre Freunde und Mitarbeiter der Hamburger Tafel. Annemarie Dose hilft immer mit - auch noch im hohen Alter. Tonnenweise Lebensmittel müssen gelagert und verteilt werden: zum Beispiel Dosenwürstchen, Nudeln, Süßigkeiten, Joghurt. Auch viel Obst und Gemüse aus dem Handel ist normalerweise im Angebot - wie etwa Äpfel, Blumenkohl und Möhren, welche häufig verschrumpelt sind oder andere optische "Fehler" haben. "Die sind alle aussortiert, weil die dem Handel nicht ins Regal passen und nicht besonders aussehen. Und da haben wir ständig frisches Gemüse, bisschen schief und krumm, aber frisch, frisch aus Norddeutschland", sagt Dose 2012 dem NDR.
Annemarie Dose steckt voller Energie
Die Augen blitzen, für ein Lachen ist die am 29. August 1928 im sächsischen Sörnewitz geborene Dose immer zu haben. Jeden Satz unterstreicht sie mit lebhaften Gesten: Annemarie Dose sprüht vor Energie - und wundert sich manchmal selbst über den Erfolg dieser einfachen Idee, überschüssige Lebensmittel an Bedürftige weiterzureichen. "Es ist nach wie vor eine Faszination, was machbar ist. Also ich find das irre."
"Ich musste mich selbst retten"
1994 hat sie damit angefangen, ist selbst mit dem Korb in der Hand losgezogen, um unverkauftes Brot bei Bäckereien einzusammeln und es an Obdachlose weiterzugeben. "Ich musste mich selbst retten", erklärt sie Jahre später den Entschluss. Denn nach dem Tod ihres Mannes 1993 ist sie mit einer Frage konfrontiert: "Und was machst du mit dem Rest des Lebens? Ich wurde 66. Das muss doch einen Sinn haben. Es gibt Leute, die sind damit zufrieden, Kaffee zu trinken oder zu golfen, oder was weiß ich - aber das ist nicht mein Leben."
Start der Tafel mit zwei Autos und provisorischem Lager
Verschwendung von Lebensmitteln ist für Annemarie Dose unerträglich. Mit ihrer zupackenden Art und viel Mut zum Improvisieren baut sie mit einer Handvoll ehrenamtlicher Helfer die Hamburger Tafel auf - und trägt maßgeblich dazu bei, dass sich die Idee, die sie aus Berlin übernommen hat, in ganz Deutschland durchsetzt. Rasch müssen Kühlfahrzeuge und Hallen beschafft werden. Mit zwei Autos und einer provisorischen Halle am Schlump startet die Tafel. Zu den ersten Abnehmern gehören Obdachlose, Drogenabhängige und Hilfsorganisationen. Nach und nach schafft sich Annemarie Dose ein immer größer werdendes Netzwerk an Ehrenamtlichen.
Tausende Menschen leben von der Hamburger Tafel
2012 versorgt die Hamburger Organisation jede Woche bereits 20.000 Menschen: ein Erfolg, der undenkbar wäre ohne die inzwischen über 100 ehrenamtlichen Helfer, sagt Annemarie Dose damals. "Jeder bringt seine Beziehungen ein, jeder bringt sein Wissen ein. Manchmal läuft das auch schief, aber aus diesen Sachen kann man ja nur lernen."
Inzwischen ist die Tafel längst eine mittelständische Firma. 2024 versorgen 65 Ausgabestellen - in Kirchengemeinden und sozialen Einrichtungen - rund 40.000 Bedürftige pro Woche. Etwa 1.000 Freiwillige sind dafür im Einsatz. Um die 90 Tonnen Lebensmittel werden nach Angaben der Tafel wöchentlich verteilt. Mehr als 250 Mitarbeitende, die meisten sind Ehrenamtliche, kümmern sich um den Ablauf. So fahren 16 Fahrzeuge mehr als 200 Betriebe über 600 Mal an, um Essen zu besorgen.
Gleichnamige Stiftung gegründet
Bereits 2002 gründet "Ami "die Annemarie-Dose-Stiftung für die Hamburger Tafel. Sie unterstützt die Tafel und andere gemeinnützige Organisationen in der Hansestadt, die sich für hilfsbedürftige Menschen engagieren. Zweck der Stiftung ist - so die Beschreibung auf der Website - "die Beschaffung von Mitteln zur Unterstützung hilfsbedürftiger Personen durch eine andere gemeinnnützige Organisation". Der Tafel selbst ist es als gemeinnützigem Verein nicht gestattet, Rücklagen zu bilden. Die Stiftung hingegen ist in der Lage, solche finanzielle Spielräume zu schaffen und zu nutzen.
"Im Alter so was zu erreichen - ein herrliches Gefühl"
2012 gibt Annemarie Dose den Vorsitz der Hamburger Tafel ab. Sie macht Zugeständnisse an das Alter. Ist sie stolz auf das Erreichte? "Nee, das ist ja das Komische, was ist Stolz? Ich bin sowas von zufrieden und bin so mit meiner Welt im Reinen wie nie zuvor. Also sehen Sie mal, wenn man im Alter noch etwas machen kann, und das anderen dient - das ist doch ein herrliches Gefühl", sagt sie dem NDR.
Für ihr Engagement wird Annemarie Dose 2009 mit dem Bundesverdienstkreuz ausgezeichnet. Die "gute Seele" der Tafel lebt von 1952 an in Hamburg-Volksdorf. Sie stirbt am 28. April 2016 im Alter von 87 Jahren.
Annemarie-Dose-Preis wird jährlich verliehen
Seit 2019 zeichnet der Hamburger Senat Engagement-Projekte mit dem Annemarie-Dose-Preis aus. Damit werden Personen und Einrichtungen geehrt, die das Leben anderer Menschen verbessern. Dabei geht es auch darum, den gesellschaftlichen Zusammenhalt in Hamburg zu stärken. Der Preis wird Jahr für Jahr um den Geburtstag der Namensgeberin am 29. August verliehen.
Aufnahmestopp - Situation der Tafel ist schwieriger geworden
Die Hamburger Tafel steht inzwischen jeden Tag vor neuen Problemen, denn die Zahl der Hilfesuchenden steigt und die Zahl der Lebensmittel-Spenden geht zurück. Seit Monaten habe die Hilfsorganisation zu kämpfen, sodass sie um Hilfe bitten müsse, sagt Frank Hildebrandt, Vorstandsvorsitzender des Landesverbandes Schleswig-Holstein und Hamburg, im Sommer 2023. An einigen Standorten brauchten doppelt so viele Menschen Lebensmittel, gleichzeitig hätten sich die Spenden halbiert. 2024 ist die Situation noch prekärer: Weil die Tafel weniger Lebensmittel bekommt, nimmt sie niemanden mehr auf.
Die Arbeit der Tafel ist "ein Kampf gegen Windmühlen"
Trotzdem blicken die Helfer stolz auf 30 Jahre Tafel zurück: "Von einer kleinen Idee zu einem großen Wunder" - so sehen es die Ehrenamtlichen. Aber sie erinnern auch mit dem Slogan "Wir haben Hamburg noch lange nicht satt" an die Bedeutung ihres Engagements. Denn die Arbeit der Tafel ist "ein Kampf gegen Windmühlen", wie Jan Henrik Hellwege, der Geschäftsführer der Hamburger Tafel, betont. "Von 350.000 armen oder von Armut bedrohten Menschen erreichen wir gerade mal um die zehn Prozent."