Bronze-Büste von Sophie Scholl © picture alliance / Winfried Rothermel Foto: pWinfried Rothermel

Sophie Scholls Vermächtnis: Mut und Klarheit gegen Unrecht

Stand: 10.05.2021 00:01 Uhr

Am 9. Mai 1921 wurde Sophie Scholl im baden-württembergischen Forchtenberg geboren. Was könnte für uns das Vermächtnis ihres Kampfs gegen den Nationalsozialismus und für eine demokratische Ordnung sein?

von Magnus Brechtken

Sophie Scholl wäre am 9. Mai 100 Jahre alt geworden - sie wurde nur 21. Die Erinnerungen an sie sind vielfältig dieser Tage. Wer sich interessiert findet eine Fülle von Sendungen, Vorträgen, Podcasts, Interviews sowie, wenn man möchte, zahllose Texte, die in den vergangenen acht Jahrzehnten über sie produziert wurden. Wie soll man, als Historiker zumal, eines solchen Tages gedenken, dieser historischen Perspektive gerecht werden, ohne in Klischees zu verfallen? Ohne zu wiederholen, was hundertfach über Sophie Scholl, auch über die Widerstandsgruppe, zu der sie gehörte, gesagt worden ist?

Mit Mut und Klarheit gegen die nationalsozialistische Herrschaft

Magnus Brechtken © imago
Magnus Brechtken ist stellvertretender Direktor des Instituts für Zeitgeschichte in München.

Gewiss, wir könnten erinnern an die Klarheit, mit der Sophie Scholl und die mit ihr Verbundenen - Willi Graf, Alexander Schmorell, Christoph Probst, Professor Kurt Huber, nicht zuletzt ihr Bruder Hans - gegen die nationalsozialistische Herrschaft einstanden. Sich zu anderen Werten bekannten als der Rassenideologie, die seit 1933 Staatsdoktrin war und die Gesellschaft in Deutschland, den Alltag von Millionen "Volksgenossen" formte.

Wir könnten erinnern an den Mut, den es bedeutete, inmitten eines täglich mordenden Regimes gegen die Gewalt aufzubegehren. Wir sollten auch hier daran erinnern, wie viel Widerhall und Unterstützung der Nationalsozialismus in der sogenannten Volksgemeinschaft dieser Jahre fand. Viel mehr, als die meisten Menschen nach 1945 gern hören oder wahrhaben mochten.

Sophie Scholl: Eine heldenhafte Ausnahmepersönlichkeit

Gewiss könnten wir schließlich jenes Bild nachzeichnen, das Sophie Scholl nach dem Krieg in der deutschen Erinnerungskultur zugeschrieben wurde: eine fast religiöse Verehrung für die heroische Tat einer jungen Frau. Die Huldigung einer zur Heldin erhobenen Ausnahmepersönlichkeit, die entrückt erschien und gerade deshalb vielen Menschen willkommen, weil sie so fern, so übermenschlich wirkte.

Denn im Umkehrschluss bedeutete das für viele der einstigen "Volksgenossen" willkommene Entlastung: So heldenhaft zu sein, das zeigte einen besonderen Mut, den - das ist das Wesen von Helden - nur wenige besitzen konnten. Wer eine solche fast religiöse Verehrung suchte, bediente mithin die Entlastungssehnsucht vieler, die nicht weiter reflektieren mochten auf ihre Rolle im Alltag der NS-Herrschaft, als Mitakteure des Funktionierens einer Gesellschaft, die von Beginn an mit Gewalt schied zwischen jenen, die dazu gehören sollten und jenen, die ausgestoßen wurden. Das konnte rasch ganz nah sein: Die eigenen Mitschüler, der jüdische Nachbar, die Verwandte mit Behinderung - die Liste ist lang. Und doch blieb dies vielen fern, weil sie meinten, dass es sie selbst nicht betreffe. Oder auch, weil sie die Konsequenzen eines ernsthaften Nachdenkens scheuten.

Man könnte es sich einfach machen

Sophie Scholl also war lange Jahrzehnte eine Projektionsfläche und bewundertes Idol, das Millionen Deutschen die Beschwernisse des eigenen Gewissens erleichterte. Aber wir müssen inzwischen offensichtlich weiter blicken, aktueller denken, um Sophie Scholls Erinnerungsrolle in der Gegenwart gerecht zu werden.

In jüngster Zeit taucht der Name Sophie Scholls immer wieder auf, wenn es um die Frage geht, wie die Regeln unserer demokratischen Gegenwart auf den Alltag des einzelnen wirken. Man könnte es sich einfach machen und sagen: Wer sich heute hinstellt und behauptet, er stehe in der Tradition Sophie Scholls oder Anne Franks, der ist ohnehin lächerlich, weil er so offensichtlich die einfachsten historischen Fakten nicht kennt.

Die Fakten zum Unterschied zwischen der Diktatur des Nationalsozialismus und unserer Demokratie heute, die Fakten zum Leben in einer offenen Gesellschaft, in der jeder nahezu alles sagen kann und selbst schwachsinnige Vergleiche verbreiten darf - im Gegensatz zu einem totalitären Überwachungsstaat, in dem allein das Verteilen von Flugblättern vier Tage später unter dem Fallbeil endete.

Für manche ist Geschichte eine Märchenwelt

So einfach könnte man es sich machen, und als erste Reaktion der Mehrheitsgesellschaft ist das durchaus verständlich. Aber wir sollten dabei nicht stehen bleiben. Aus eigenem Interesse. Denn die Erfahrung zeigt, dass es offensichtlich immer Menschen gibt, die Geschichte entweder nicht ernst nehmen, nicht verstehen oder nicht wahrhaben wollen.

Oder gefährlicher: Jene, denen Geschichte eine Märchenwelt ist, die sie meinen als Instrument für ihre gegenwärtigen Interessen faktenfrei missbrauchen und so umerzählen zu können, wie es ihnen gerade passt. Wird schon keiner merken. Sie rechnen auf die Toleranz der offenen Gesellschaft und der freien Meinungsvielfalt, die sie selbst im Grunde verachten und mit ihren Fantasien und Verschwörungsmärchen bekämpfen.

Ignoranz ist nicht harmlos

Und hier nun muss man als Historiker die Wortwahl der freundlichen Zurückhaltung verlassen und Klartext sprechen. Geschichte zu kennen, sich der Fakten zu versichern, ist nicht gleichgültig. Ignoranz ist nicht harmlos.

Es ist vielmehr der Wert der Geschichte, dass wir prüfbares, durch Dokumente und Berichte, durch Quellenforschung und Thesenklärung gesammeltes Wissen verfügbar haben. Für jeden, der wissen will. Aber auch gegen jeden, der sich gegen prüfbare Fakten stellt. Ob aus Zynismus, aus Ignoranz, aus Sucht nach lügenhafter Prominenz - das mag uns im Grunde gleichgültig bleiben. Solange wir nur die Prinzipien hochhalten, nach denen prüfbares Wissen, ob in Medizin, im Maschinenbau oder eben in der Geschichtswissenschaft erarbeitet wird. Die offene Gesellschaft ist eine tägliche Abstimmung derer, die für sie eintreten.

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Unwissenheit ist keine Entschuldigung

Zum Klartext gehört weiter: Wer heute seine Unzufriedenheit im Alltag einer offenen Gesellschaft mit dem Widerstand gegen die Diktatur des NS-Regimes gleichsetzt, der verspottet die Millionen Opfer, spuckt denen ins Gesicht, die seinerzeit ihr Leben riskierten, nur um ein paar Flugblätter zu verteilen, während heute alle Kanäle der Kommunikation weit offen stehen und auch der Dümmste in seiner Echokammer die krudesten Fanfaren eines vermeintlichen Weltuntergangs blasen darf.

Anders formuliert: Wer heute die Regeln des demokratischen Staates missachtet und dabei meint, sich auf Sophie Scholl und andere berufen zu können, die Widerstand gegen den Nationalsozialismus leisteten, der verhöhnt deren Charakter und ihre historische Leistung. Wer Diskriminierungssymbole der Nationalsozialisten wie den Judenstern heute missbraucht, um billige Aufmerksamkeit zu erzeugen, zeigt sich als ein Mensch entweder ohne Kenntnis oder ohne Gewissen. Er präsentiert sich zynisch und ist moralisch unglaubwürdig. Wir sollten auch das klar so benennen.

Mag sein, dass manche Menschen wirklich keine Ahnung haben, was die NS-Herrschaft bedeutete, der Rassenstaat und seine Todesdrohungen. Wer so naiv oder unwissend ist, dem dürfen wir sagen: Das mag eine Erklärung sein, eine Entschuldigung ist es nicht. Informier Dich. Das Wissen ist frei verfügbar. Wer aber nicht wissen will, darf sich nicht beklagen, wenn wir ihm das vorhalten.

Wer allerdings bewusst die Erinnerung umzuschreiben sucht mit falschen Analogie-Versuchen, legt vor allem eines offen: Seinen eigenen antidemokratischen Charakter, ein totalitäres Weltbild, das nicht akzeptieren mag, wie Regeln verhandelt werden und warum sie gelten in einer offenen Gesellschaft.

Vertrauen in die Kraft der eigenen Vernunft

Wir haben in der Bundesrepublik viel erreicht in den zurückliegenden Jahrzehnten. Auch deshalb, weil wir uns in der Mehrheit kritisch den oft unbequemen Elementen der eigenen Vergangenheit gestellt haben. Wir haben gelernt, dass es niemandem hilft, wenn wir versuchen, uns in eine selbsttäuschende Harmonisierungsgeschichte zu flüchten. Dass wir vielmehr besser leben, ziviler und auch kreativer, wenn wir rational analysieren, ehrlich diskutieren, offen verhandeln und die Konsequenzen suchen aus dem Wissen um die Geschichte.

Wenn wir also zum 100. Geburtstag von Sophie Scholl einen Gedanken ernst nehmen sollten, dann den: Dass individuelle Verantwortung zunächst damit beginnt, den kritischen Umgang mit uns selbst zu üben und uns historisch ehrlich zu vergewissern. Gelingt uns das, ist einiges gewonnen für eine Zivilgesellschaft, die in sieben Jahrzehnten schon reichlich Orientierungswissen gesammelt hat, um weniger auf historisches Heldentum hoffen zu müssen als auf die Kraft der eigenen Vernunft vertrauen zu können.


12.05.2021 13:55 Uhr

Hinweis der Redaktion: In einer früheren Version dieses Artikel hieß es, dass Sophie Scholl in München geboren wurde. Sie wurde in Forchtenberg im heutigen Baden-Württemberg geboren. In München studierte Sophie Scholl mit ihrem Bruder.

 

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Dieses Thema im Programm:

NDR Kultur | Gedanken zur Zeit | 08.05.2021 | 13:00 Uhr

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