Stand: 24.01.2020 15:02 Uhr

Charlotte Knobloch: "Werde meine Heimat nicht verlassen"

Am 27. Januar wird weltweit der Opfer des Nationalsozialismus gedacht. Auch 75 Jahre nach Ende des Zweiten Weltkriegs ist das Erinnern wichtiger denn je. Laut einer aktuellen Studie des Jüdischen Weltkongresses denkt jeder vierte Deutsche antisemitisch. Viele Jüdinnen und Juden denken darüber nach, Deutschland zu verlassen. "Für mich kommt das nicht in Frage", sagt die frühere Vorsitzende des Zentralrats der Juden, Charlotte Knobloch, die selbst den Holocaust überlebt hat.

Frau Knobloch, Sie sind unter anderem "Beauftragte für die Erinnerung an den Holocaust" des Jüdischen Weltkongresses. Welche Rolle spielt diese Erfahrung und diese Erinnerung des Holocaust heute im jüdischen Selbstverständnis?

Charlotte Knobloch, Präsidentin der Israelitischen Kultusgemeinde München und Oberbayern, bei einer Gedenkveranstaltung für die Opfer des Nationalsozialismus. © dpa bildfunk Foto: Armin Weigel
"Die AfD hat einen Samen gestreut, der herrlich aufgegangen ist", sagt Charlotte Knobloch.

Charlotte Knobloch: Diejenigen, die überlebt haben, können das nicht vergessen. Sie reden auch darüber - was sie jahrzehntelang nicht gemacht haben. Diejenigen, die noch in irgendeiner Form eine Schuld bei sich selbst oder bei ihrer Familie suchen, wollen diese Themen nicht an die Öffentlichkeit bringen und deswegen auch nicht darüber sprechen. Ihnen ist es sehr wichtig ist, dass auch andere nicht darüber sprechen.

Es hat mehr als 50 Jahre gebraucht, also bis zum Januar 1996, bis der damalige Bundespräsident Roman Herzog diesen Jahrestag am 27. Januar, an dem 1945 die Rote Armee das Vernichtungslager Auschwitz Birkenau erreichte, zum Gedenktag für die Opfer des Nationalsozialismus ernannte. Warum hat sich die Bundesrepublik so lange so schwer damit getan?

Knobloch: Ich glaube, das ist heutzutage nicht mehr der Fall. Ich sehe das bei den jungen Leuten, mit denen ich zu tun habe. Die jungen Menschen wollen über die Vergangenheit ihres Landes Bescheid wissen, sie wollen auch darüber reden und Fragen stellen. Und es wird auch darüber gesprochen. Der 27. Januar ist ein Gedenktag, kein Feiertag - das muss man immer auseinanderhalten, das ist sehr wichtig. Ich war am Anfang nicht so glücklich darüber, als er eingerichtet wurde. Heute bin ich sehr zufrieden über die Tatsache, dass zumindest einmal im Jahr in unserem Land über dieses Thema gesprochen wird und an dieses Thema erinnert wird.

Nach einer im vergangenen Oktober veröffentlichten Studie des Jüdischen Weltkongresses sind 41 Prozent der Deutschen der Meinung, Juden redeten zu viel über den Holocaust. Wir tun das - zum Glück - trotzdem. Womit erklären Sie sich diesen eigentümlichen Holocaust-Verdruss der Deutschen?

Knobloch: Das sind nicht zufällig die Gegner der liberalen Demokratie. Die AfD hat einen Samen gestreut, der herrlich aufgegangen ist. Sie ist eine Partei des Hasses und hat sich auch in diese Richtung bewiesen. Es gab mal Versäumnisse in der Bildung, aber ich habe das ja schon dargestellt, dass sich das heute in den meisten Fällen, in denen ich mit jungen Menschen rede, ganz anders sehe. Sie sind interessiert an der Vergangenheit und wollen auch die Einzelheiten kennenlernen. Aber ich sage den jungen Menschen immer wieder: Es geht hier nicht um Schuld, es geht nicht um die Aufzählung von Taten - es geht darum, dass sie die Verantwortung für die Zukunft haben, dass so etwas nicht passiert. Das ist das Wichtigste, was man zu diesen ganzen Themen, die wir jetzt gerade besprochen haben, den jungen Menschen mitgeben kann und mitgeben soll.

Aber in der Studie des Jüdischen Weltkongresses heißt es auch, dass jeder vierte Deutsche antisemitische Gedanken hegt. Das sind also nicht nur die äußersten Ränder, sondern das geht bis in die Mitte der Gesellschaft hinein. Deckt hat sich das auch mit Ihren Erfahrungen, die Sie täglich machen?

Knobloch: Ich habe hier noch keine Zählungen durchgeführt und würde das auch nicht in den Raum stellen. Es hat sich sehr viel verändert. Der Antisemitismus ist heutzutage stärker vorhanden als in den vergangenen Jahrzehnten. Es gab nach 1945 einen enormen Antisemitismus - die Leute konnten ihre Gedanken nicht von heute auf morgen verändern. Heutzutage ist es ein neuer Antisemitismus, der auf dem alten Antisemitismus aufbaut und der durch die Hetzpropaganda einer bestimmten Partei Nahrung gefunden hat und heutzutage sehr öffentlich ist. Mir tut es persönlich sehr weh, dass solche Dinge, die uns diskriminieren, die uns auch persönlich beleidigen, ungestraft in der Öffentlichkeit vorhanden sind.

Man hat das Gefühl, dass Antisemitismus im Moment wieder sehr viel stärker wird - und das nicht nur mit diesem grauenhaften Attentat in Halle. Ist jüdisches Leben in Deutschland wieder gefährdet?

Knobloch: Absolut, das muss man schon sagen. Wir brauchen nur das Internet aufschlagen. Auf der Seite judas.watch wurden einige von uns - auch meine Wenigkeit - öffentlich diskriminiert, mit einem Davidstern gezeichnet und als Verbrecher an der weißen Rasse bezichtigt. Das sind alles Dinge, die an die Öffentlichkeit kommen. Daran sind das Internet und die sozialen Medien Schuld. Dieses Gift wurde von der AfD gestreut, und das bekommt man nicht so schnell wieder weg.

Viele Jüdinnen und Juden hierzulande denken spätestens seit dem Attentat von Halle darüber nach, das Land zu verlassen. Sie haben vor Jahren mal gesagt, nein, sie würden nicht die Koffer packen. Gilt das immer noch?

Knobloch: Ich habe vor Jahren gesagt, ich habe die Koffer ausgepackt - und daran halte ich fest. Normalerweise geht der Kapitän irgendwann als Letzter vom Schiff, aber solche Gedanken hege ich überhaupt nicht. Ich werde meine Heimat nicht verlassen, die ich wiedergefunden habe - und das ging nicht von heute auf morgen. Ich glaube an dieses Land und hoffe er vor allem auf die Menschen, die mir, mit den negativen Zuschriften und Zurufen, die ich bekomme, auch Mut machen und sagen, dass sie für uns da sind und dass sie auf keinen Fall eine Verfolgung der Juden in Kauf nehmen würden. Diese Menschen darf und will ich nicht enttäuschen. Für mich kommt das nicht in Frage.

Mein Vater, der den Nationalsozialismus hautnah erlebt hat, hat mir damals auch gesagt, dass man durch diese neue deutsche Demokratie, die in den damaligen Zeiten geschaffen wurde, jetzt wieder einen Glauben und eine Bestätigung für das künftige Judentum finden kann. Und daran habe ich mich gehalten und werde mich auf weiter daran halten. Aber wenn ich heute eine junge Familie mit Kindern hätte, würde ich vielleicht anders denken. Viele junge Familien sagen, dass sie nicht wissen, ob ihre Kinder hier noch eine Zukunft haben. Sie würden sich umschauen, inwieweit sie dieses Land verlassen können. Das ist etwas, was mich sehr bedrückt. Wir hatten wieder ein blühendes Judentums, und ich möchte, dass das weiter so bleibt. Und da rufe ich die Menschen auf, dass es sich dazu bekennen, dass Juden ihre Heimat behalten sollen und eine Zukunft haben für ihre Kinder in diesem Land.

Das Gespräch führte Jürgen Deppe

Dieses Thema im Programm:

NDR Kultur | Journal | 27.01.2020 | 19:00 Uhr

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