Heimat in der Erinnerung und im Jetzt
Was meine Heimat sei - das fragen mich Leute, seitdem ich denken kann. Eine berechtigte Frage. Denn als ich sechs Jahre alt war, sind meine Familie und ich vor dem Krieg in Bosnien geflüchtet. Das war 1992. Wir kamen dann in einen kleinen Ort in Nordhessen. Und gerade deshalb hat der Begriff Heimat für mich eine besondere Bedeutung - und zwar losgelöst von nur einem Ort.
Heimatort: Banja Luka
Natürlich gibt es einen Ort, an dem ich aufgewachsen bin. Dort ging ich zur Schule, hatte meinen ersten Freund und hielt mein Abiturzeugnis in den Händen. Doch jetzt verbinden mich damit eigentlich nur meine Freunde, mit denen ich mich zu unserem Erntedankfest oder an Weihnachten zum Schrottwichteln treffe. Heimat ist diese Kleinstadt in der Mitte Deutschlands für mich nicht - denn dafür braucht es mehr als sporadische Treffen. Eine andere Stadt ist für mich umso wichtiger: Banja Luka im Norden Bosniens.
Erinnerungen von Erinnerungen
Ich habe nur einen Bruchteil meines Lebens in Banja Luka verbracht. Ich bin dort geboren, besuche die Stadt und meine Verwandten - wenn es geht - einmal im Jahr. Und doch ist Banja Luka ein ganz magischer Ort für mich - wegen der Erinnerungen meiner Eltern, die mit der Zeit auch zu meinen Erinnerungen wurden, auch wenn sie in eine Zeit zurückgehen, in der ich noch lange nicht geboren war.
Eine kleine Zeitreise
Oft komme ich wie jetzt im Herbst nach Banja Luka. Wenn morgens der Nebel hochsteht, bevor ihn die Mittagssonne vertreibt und an den Sommer erinnert. Ich schließe in Deutschland meine Wohnungstür zu, setze mich ins Auto und steige nach knapp 1.600 Kilometern in der Stadt aus, in der meine Familie über Generationen gelebt hat. Ich fahre an den Häusern meiner Großeltern vorbei, an dem Stadtpark mit dem Tennisclub, in dem ich mit meinem Vater die ersten Bälle geschlagen und mich mit meinen Cousins vor meiner Mutter versteckt habe. Vorbei am Haus der Kultur, in dem ich als kleines Mädchen Ballettunterricht hatte, durch die Fußgängerzone zur "Pijaca", dem Markt, auf dem gefälschte Ninja-Turtles-Spielfiguren neben fleischigen Tomaten und kratzigen Wollsocken angeboten werden. Meist ist es der gleiche Weg - ein Ritual, das mich in Gedanken durch die Zeit reisen lässt.
Wohlfühlen an der Küste
Meine Gegenwart spielt in Kiel. Seit 2009 lebe ich an der Förde und muss sagen, ich fühle mich schon sehr nordisch. Das merke ich besonders, wenn ich mal wieder im Süden der Republik bin und höre: "Bei euch im Norden ist das lustig, da sagt man ja den ganzen Tag 'Moin, Moin!'" Ich reagiere oft genervt - und doch muss ich schmunzeln, denn ja: Ich finde es schön, dass die Leute mich als Norddeutsche wahrnehmen, auch wenn ich ursprünglich Bosnierin bin. Ich habe meine Freunde hier, und von der Küste bekommt mich so leicht keiner mehr weg. Hier bin ich zu Hause, hier fühle ich mich heimisch.
Die Gegensätze bilden das Ganze
Und ich merke: Heimat ist vielseitig. Für mich bilden die größten Gegensätze, die scheinbar in keiner Weise zusammenpassen, erst gemeinsam das vollständige Ganze. Ich fühle mich heimisch, wenn ich mich mit meinen Mädels auf einen Kaffee auf dem Kieler Wochenmarkt treffe. Wenn ich zur Arbeit mit Blick aufs Wasser komme und nach Feierabend eine Runde an der Förde radele. Doch ohne eine Sache wäre dieses Heimatgefühl unvollständig: Die regelmäßigen Besuche in Banja Luka. Und einen Espresso und eine Cola morgens am "Vrbas", dem Gebirgsfluss in Nordbosnien, in dem ich als Kind gebadet habe. Damals, Anfang der 90er.
