Ukraine: Holocaust-Überlebende flüchtet nach Deutschland
Holocaust-Überlebende Maria Rota kehrt wegen des Ukraine-Krieges zurück in das Land, welches sie wegen des Zweiten Weltkriegs damals verlassen hat.
Normalerweise würde sie um diese Uhrzeit die Hühner füttern. Danach die Kühe melken und zum Schluss kämen die Gänse. Die warten auf ihren Hafer in einem Freilandgehege hinter dem Haus. Normalerweise wäre das so, aber seit Ende Februar ist nichts mehr normal. Jetzt liegt Maria Rota auf ihrem schmalen Bett in der Flüchtlingsunterkunft in Kiel. Heute tut die linke Seite besonders weh. Sie hatte sich im vergangenen Jahr die Hüfte gebrochen, ein Riss ist immer noch geblieben. Ihr Lieblingsplatz ist allerdings am Fenster. Da kann sie rausschauen, auf den Hof: "Die Ärzte sagen, ich müsste mich bewegen. Das will ich auch gern, aber wir leben hier in der ersten Etage. Es sind zu viele Stufen für meine alte Hüfte."
Wegen Bomben aus der Ukraine zurück nach Deutschland
Lange ist es her, dass Maria Rota das letzte Mal hier war. Dass sie deutschen Boden überhaupt je wieder betreten würde, das hätte sie auch nicht gedacht. Was in ihrer Heimat Donezk passiert, hat Rota aber keine andere Wahl gelassen. Sie musste vor drei Wochen mit ihrer Familie fliehen. Alles, was ihr etwas bedeutet hat, ist zerstört, sagt sie. Bomben, die fliegen - das ist ihre letzte Erinnerung an die Heimat. Ihre frühste Erinnerung in ihrem Leben sind ebenfalls Bomben. Die im Zweiten Weltkrieg.
"Ich will keinen Krieg. Es flogen damals auch Flugzeuge. Laut war es. Die Häuser direkt nebenan, sie explodierten", erzählt Rota. Die Stimme der 83-Jährigen zittert leicht. Ihre Augen schauen sanft durch den Raum, so als wäre sie jetzt ganz weit weg. "Ich erinnere mich. Ich hatte damals die Türen verschlossen und Fenster. Ich war damals ganz klein, ein Kind. Ich hatte alles verschlossen und mich dann unter dem Bett versteckt."
Einzelne Erinnerungen an die Zeit im KZ als Kind
Maria Rota ist eine Roma. Als Kind brachten sie die Nazis in ein deutsches Konzentrationslager (KZ). Zusammen mit ihren Eltern und Großeltern - für ein ganzes Jahr. Welches KZ genau, daran kann sie sich nicht erinnern. Ihre Eltern hätten nach dem Krieg darüber nicht gesprochen. Geblieben sind einzelne Erinnerungen: "Im KZ töteten sie meinen Opa. Sie schmissen seinen Körper mit den anderen Leichen einfach so übereinander", erzählt Rota. Sie pausiert und holt tief Luft. "Sie wollten uns alle verbrennen. Die Juden, die Roma. Das haben sie immer wieder gesagt. Es war schrecklich."
In Sorge um die Familie in der Ukraine
Nur ein Teil ihrer Familie ist hier: ihre Tochter und deren drei Kinder, die mittlerweile selbst Kinder haben. Zwei der Söhne von Maria Rota sind noch in der Ukraine. Mit ihnen kann sie nur telefonieren. Die neuen Telefone sind nichts für sie. Zu klein die Buchstaben, zu alt meine Augen, klagt sie.
Ihr Enkel Gaitis wählt für sie. Er hat gerade im Internet gelesen, dass es über Nacht erneut Angriffe gab. Dort, wo Marias ältester Sohn Walera wohnt. Es piept nur einmal, sofort antwortet ein älterer Mann. Gaitis atmet sichtlich auf: "Walera, bist du wohlauf? Was sagst du, sind bei euch Bomben gefallen?" Der ältere Mann denkt kurz nach: "Ja, 37 Raketen und das nur in dieser Nacht." Maria Rota kann nicht warten, sie streckt ihre Hände nach dem Telefon aus: "Walerij, mein Walerij, wann kommt ihr her? Wie hat euch Gott gerettet? Wo habt ihr euch versteckt? Im Keller?". Sie kann nicht mehr so gut hören, zu alt die Ohren, klagt sie. Walerij muss die Stimme heben: "Ja, im Keller. Haben da die Nacht abgesessen."
So gelang die Flucht im Zweiten Weltkrieg
Damals im Konzentrationslager mussten sie eines Morgens zum Appell. Danach kam eine medizinische Kontrolle. Der Arzt, ein Deutscher, sollte die Häftlinge wohl auf ihre Tauglichkeit prüfen, erinnert sich Rota. "Als meine Mutter an der Reihe war, da … Ich kann es mir nicht recht erklären. Aber sie war schwanger und er hatte wohl Mitleid. Vielleicht fand er sie auch sympathisch. Er hat uns zur Flucht verholfen."
Die Sonne scheint hell durchs Zimmer. Sanft fällt sie auf die alten Hände von Rota. Sie wärmt so schön, sagt Rota, da will sie es für einen Moment nur genießen.
"Meinen Bruder hat meine Mutter dann auf einem Feld entbunden. Mit einem Stein hat sie dann selbst die Nabelschnur durchtrennt. Irgendwann kam eine Armee. Sie haben eine Sprache gesprochen, die habe ich nicht verstanden. Aber die haben uns Essen gegeben. Dann waren wir in der Ukraine." Rota pausiert erneut. "Aber wie wir geflohen sind, wie wir in die Ukraine kamen, das weiß ich nicht mehr. Auch nicht, wie mein Vater wieder zu uns fand. Mein Gedächtnis ist zu alt."
Anrecht auf Entschädigung: Geld nie abgeholt
Vor mehr als zwanzig Jahren hat Deutschland Rota ein Anrecht auf Entschädigung ausgesprochen. Bis heute hat sie das Geld nicht abgeholt. Sie wollte eigentlich gern. Das Geld könnte die Familie gut gebrauchen. Aber so recht hat sie sich nach Deutschland nicht getraut. Ihr Mann war dann verstorben, auch einer ihrer Söhne. Eine so lange Reise alleine, das hätte ich nicht geschafft - zu alt meine Beine, sagt sie.
Rota blickt voller Dankbarkeit nach vorn
"Ich bin so dankbar. Für das Essen, das warme Bett, die Freundlichkeit der Deutschen, die Gastfreundschaft und die vielen lächelnden Gesichter", sagt Rota. Das sagt sie an diesem Nachmittag immer und immer wieder. Jedes Mal aus tiefstem Herzen. "Ich bin 83 Jahre alt. Ich habe schon einen Krieg überlebt. Dann überlebe ich auch diesen Krieg. Ich bin ja nicht mehr im Konzentrationslager. Ich bin ein freier Mensch. Hauptsache, meine Familie und ich können hier gemeinsam leben."
Bis heute kann Maria Rota Kiel nur aus dem Fenster sehen. Sie will die Umgebung erkunden. Zurück in die Ukraine will sie nicht mehr, sagt sie. Da ist nichts mehr, was sie hält. Sie wünscht sich, bald mit ihrer Familie eine Zukunft hier aufbauen zu können. "Endlich alle in einem Haus leben und ich brauche nichts mehr außer einem kleinen Zimmer mit einem Fenster, durch das die Sonne scheint," sagt sie und lächelt. Mit 83 Jahren will sie neu anfangen und die Kriege ihres Lebens hinter sich lassen, sagt sie, denn für eine Sache ist sie nie zu alt: Glück.
