Die Crew des Segelboots "Blindfisch" sitzt an Bord und lacht. © NDR Foto: Marina Heller

Kieler Woche: Gelebte Inklusion an Bord der "Helga"

Stand: 21.06.2022 14:50 Uhr

Karen Marie Suthmann ist von Geburt an gehörlos und seit einem halben Jahr Teil der Crew der "Helga". Damit sie sich an Bord zurechtfinden kann, hat sie mit ihrem Team Strategien entwickelt, die auch bei der Kieler Woche funktionieren sollen.

von Marina Heller

Bei der Kieler Woche gehen in diesem Jahr zwei besondere Boote in der "J/70"-Klasse an den Start - die "Helga" und die "Blindfisch". Auf ihnen segeln Blinde und Gehörlose an der Seite von Menschen ohne Handicap. Der Norddeutsche Regatta Verein (NRV), die Segelabteilung des FC St. Pauli und der Hamburger Gehörlosen Sport Verein (HGSV) stehen hinter dem ambitionierten Pilotprojekt: "Gelebte Inklusive auf der Regattabahn." Die Crew steht besonderen Herausforderungen gegenüber und investiert viel Zeit, damit die Kommunikation an Bord stetig optimiert werden kann.

Crew musste eigene Sprache entwickeln

Karen Marie Suthmann ist von Geburt an gehörlos. Das Rauschen des Meeres hat sie nie gehört. Dennoch war die 39-Jährige sofort Feuer und Flamme, als sie vom Projekt des NRVs zum ersten Mal erfuhr und heuerte auf der "Helga" an. Zu Beginn stand die gelernte Messe- und Ausstellungstechnikerin einer außergewöhnlichen Schwierigkeit gegenüber: Niemand in der Crew beherrschte die Gebärdensprache. Und für viele Segelbegriffe gibt es auch gar keine Übersetzungen. "So musste ich mit meinem Team eine eigene Sprache entwickeln. Das funktioniert inzwischen gut, da wir ein eingespieltes Team sind, auf das ich mich jederzeit verlassen kann", scherzt Suthmann. Bisher sei auch noch niemand über Bord gegangen.

Konkurrenten wissen nichts vom Inklusions-Team

Auch Alexander Tyssen ist Crew-Mitglied. Er hat eine starke Sehschwäche. "Bei sonnigen Bedingungen kann ich etwas Farben und Formen erkennen. Das hilft mir bei der Orientierung an Bord", sagt der 26-Jährige. Sein gleichaltriger Bruder Leon ist Steuermann und sucht immer wieder nach kreativen Lösungsansätzen. Die Crew wird komplettiert durch die 58-jährige Christiane Willim und die 52 Jahre alte Silke Kückendahl. Für Außenstehende wirkt die Kommunikation an Bord hektisch und ungewöhnlich. Die Konkurrenten wissen oftmals nicht, dass es sich um eine inklusive Crew handelt. Mit der Zeit ist es beiden Teams gelungen, sich den Respekt in der Szene zu verschaffen.

Keine Extrawurst für Inklusion

Zusätzlich Punkte wollen sie nicht bekommen. "Wir gehen als ein normales Team an den Start. Das ist uns sehr wichtig. Wir möchten keine Extrawurst!", so Christiane Willim. Das Team nahm in diesem Jahr erfolgreich am renommierten Helga-Cup in Hamburg teil und konnte dort deutlich machen, dass sie ein ernst zu nehmender Gegner auf dem Wasser ist. Die inklusiven Segler landeten auf dem 41. Platz in einem Teilnehmerfeld bestehend aus 50 Teams.

Jedes Wochenende wird zusammen gearbeitet

Die Crew verbringt jedes Wochenende im Sommerhalbjahr gemeinsam auf dem Wasser. Dann wird an der Feinabstimmung gearbeitet. Die Crew lernt sich immer besser kennen und und sammelt wichtige Erfahrungen. Der Spaß am Segeln steht aber stets im Vordergrund. Die Platzierung ist Nebensache. "Ich freue mich, dass ich an Bord der 'Helga' als vollwertiges Mitglied akzeptiert werde und keine Sonderbehandlung erhalte, wie ich es im Alltag oft erleben muss. Es gibt in unserer Gesellschaft viele Berührungsängste, die dringend abgebaut werden müssen", erläutert Karen Marie Suthmann.

Stampfen für Aufmerksamkeit

Menschen mit Sehschwäche haben auf dem Wasser eine andere Wahrnehmung. Sie können den Kurs spüren und orientierten sich am Stand der Sonne. Karen hingegen braucht klare Signale. Die Teammitglieder tippen sie an oder stampfen auf den Boden, um ihre Aufmerksamkeit zu erhalten. Das Team ist ein gutes Beispiel dafür, dass man seine Schwächen in Stärken umwandeln kann, wenn man bereit ist, sich auf andere Personen einzulassen und gemeinsam nach Lösungsansätzen sucht.

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"Beide Seiten können viel voneinander lernen"

Dass es an Bord auch einmal hektischer und lauter zugeht, bleibt hierbei nicht aus. Trotzdem hat das Team zueinander gefunden und möchte auch in Zukunft gemeinsam an Regatten teilnehmen und voneinander lernen. Bereits im letzten Jahr ging ein Team aus Gehörlosen bei der Kieler Woche 2021 an den Start. Dort gab es viele Probleme mit der Kommunikation auf dem Wasser, sodass Signale nicht rechtzeitig wahrgenommen wurden. Dies führte zu sicherheitsrelevanten Bedenken. Ein gemischtes Team kann diese Probleme umgehen.

Leider sind die beiden Teams in diesem Jahr die Einzigen ihrer Art. Dabei eignet sich das Segeln wie kaum ein anderer Sport für Menschen mit Einschränkungen. "Es ist ein kleiner Schritt in die richtige Richtung und motiviert hoffentlich viele weitere Menschen, in Zukunft mit an Bord zu gehen. Es ist wichtig, dass wir mit solchen Projekten auf die Menschen zugehen und versuchen, die Hemmschwellen abzubauen", sagt Teammanager Sven Jürgensen. Er ist sich sicher: "Beide Seiten können viel voneinander lernen."

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Dieses Thema im Programm:

NDR 1 Welle Nord | Moin! Der Tag in Schleswig-Holstein | 21.06.2022 | 17:20 Uhr

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