Sonja Borowski (rechts) sitzt gemeinsam mit ihrer Mutter (links) am Küchentisch © NDR

Vom Mobbingopfer zur Mutmacherin - Leben mit Legasthenie

Stand: 14.02.2022 07:49 Uhr

Lesen und schreiben können ist für viele Menschen hierzulande selbstverständlich. Wer damit Probleme hat, wird deshalb schnell als dumm abgestempelt. So ging es auch Sonja Borowski aus Ammersbek.

von Lena Haamann

In der Grundschule wurde ihre Lese-Rechtschreib-Schwäche von den Lehrern nicht erkannt. Statt der richtigen Förderung gab es viele schlechte Bewertungen. Sonja Borowski wurde von ihren Mitschülern gemobbt. Doch mittlerweile hat es die 29-Jährige geschafft, aus ihrer Schwäche eine Stärke zu machen.

Sonja Borowski läuft die Straße entlang, die sie als Kind so gut es ging gemieden hat. Denn hier, im Ortskern von Ammersbek im Kreis Stormarn, haben sich ihre Mitschüler nachmittags oft an der Eisdiele getroffen. Sie war nie eingeladen. "Ich wurde aus der Klassengemeinschaft ausgeschlossen. Ich war immer die Doofe, die die vielen Fehler gemacht hat", erzählt sie und berichtet von einem Wunsch, den sie damals als überwältigend empfand: "Ich wollte am liebsten unsichtbar sein."

Dinge, die man nicht vergisst

Sonja Borowski ist zu Besuch bei ihrer Mutter, öffnet im Haus die Luke zum Dachboden, klettert hinauf und kramt in einer Kiste mit alten Schulheften. "Wenn ich die Sachen von damals sehe, kommen bis heute noch die alten Gefühle wieder hoch", sagt sie und schlägt ein Schreibheft mit Diktaten auf, in dem fast mehr Rot vom Korrekturstift des Lehrers zu sehen ist als ihre eigene Schrift. "Ich erinnere mich noch genau daran, wie meine Mitschüler mir das Heft aus der Hand gerissen und darüber gelacht haben", erzählt sie.

Wurde in Deutsch ein Diktat geschrieben, musste Sonja Borowski, in einen anderen Raum - um die Klasse angeblich nicht aufzuhalten. "Das sind Dinge, die vergisst man nicht", sagt sie. Auch in anderen Fächern litten die Noten unter ihrer unerkannten Lese-Rechtschreib-Schwäche. Denn oft hat sie Aufgabenstellungen nicht richtig verstanden. Schließlich sollte sie eine Klasse wiederholen. In die Schule zu gehen, wurde zum immer größer werdenden Druck. Sonja Borowski entwickelte sogar körperliche Symptome, bekam Hautausschlag am ganzen Körper.

Diagnose: Legasthenie

Sonja Borowski (rechts) sitzt gemeinsam mit ihrer Mutter (links) am Küchentisch © NDR
Sonja Borowski (r.) schaut gemeinsam mit ihrer Mutter alte Schulhefte an.

Die 29-Jährige setzt sich mit den alten Heften neben ihre Mutter Kathrin Borowski-Prilipp an den Küchentisch. Sie erzählt davon, wie sie schon ab der ersten Klasse extreme Veränderungen am Verhalten ihrer Tochter bemerkte: "Sie kam immer so fertig aus der Schule. Dann war nur Geschrei, die Hefte flogen durch die Gegend und es wurde gegen Türen getreten. Sie wurde richtig aggressiv." Ihre Eltern gingen deshalb mit ihr zu verschiedenen Ärzten und bekamen schließlich die Diagnose: Legasthenie.

"Ein Hafen für meine Stärken"

In der 3. Klasse begann sie deshalb eine Lerntherapie. Dabei wurde zum Beispiel "nicht mit Buchstaben gearbeitet, sondern mit Silben. Und wir haben die Wörter auch geturnt", erinnert sich ihre Mutter und blättert in einem Heft mit vielen bunten Aufklebern. Jeden Abend habe sie damals mit ihrer Tochter geübt, spielerisch und ohne Druck. Schließlich meldete Kathrin Borowski-Prilipp sie auf eine Sonderschule. Sonja Borowski erinnert sich: "Als meine Eltern mit mir zur neuen Schule gefahren sind, habe ich mich erst einmal gewehrt, weil ich nicht anders sein wollte. Aber dann habe ich schnell festgestellt, dass es ein Hafen ist, wo meine Stärken geschätzt werden."

Die Schwäche hat sie stark gemacht 

Wieder zu Hause sitzt die 29-Jährige am Laptop und tippt eine E-Mail an ihren Chef. "Bei offiziellen Dingen hilft mir die Rechtschreibkorrektur. Oder ich lasse meinen Mann noch einmal drübergucken", sagt sie. Mit dem Lesen hat sie heute gar keine Probleme mehr. Dank der richtigen Förderung auf der Sprachheilschule schaffte sie im Anschluss daran den Realschulabschluss. Und das Fachabitur. Sie studierte Soziale Arbeit, schloss mit "sehr gut" ab und begann, sich für die Belange von Legasthenikern einzusetzen.

"Es ist schon eine Überwindung, so offen zu sprechen"

Sonja Borowski gründete eine bundesweite Selbsthilfegruppe, gab Workshops und schrieb ein Buch: "Es ist normal, verschieden zu sein". Denn sie möchte anderen Betroffenen Mut machen und aufklären. "Ich möchte ihnen mitgeben, dass es sich lohnt, an sich zu glauben. Und dass es ein Normal oder Unnormal gar nicht gibt, sondern dass wir alle Stärken und Talente haben und Vielfalt schön ist", sagt sie, fotografiert dabei ihr Buch mit dem Handy und postet es bei Instagram. 400 Exemplare hat sie seit dem vergangenen Sommer verkauft. Auf ihren Social-Media-Kanälen berichtet sie aber auch von den schweren Zeiten, die sie hinter sich hat. "Es ist schon eine Überwindung, so offen zu sprechen, aber um die Menschen zu erreichen, muss ich das tun. Damit andere es als Mutmacher auffassen und feststellen: Ich bin nicht allein."

Diese Unterstützung für andere hat Sonja Borowski als Sozialarbeiterin mittlerweile wieder dahin zurückgeführt, wo sie einst so sehr gelitten hat: an die Schule. Es ist der Ort, wo sie neben ihrem Engagement für Legastheniker den meisten Bedarf sieht, Kinder als das zu erkennen, was sie sind. Und nicht, was sie sein sollen.

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Nachrichten für Schleswig-Holstein | 13.02.2022 | 19:30 Uhr

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