Bundesverdienstkreuz-Trägerin Marion Schneider steht am Ufer eines Gewässersund lächelt in die Kamera. © NDR Foto: Johannes Tran

Marion Schneider: Die Frau, die 140 Kinder großgezogen hat

Stand: 23.08.2022 16:53 Uhr

1979 gründete Marion Schneider ein Kinderheim im Kreis Segeberg. Jahrzehntelang lebte sie mit den Kindern unter einem Dach. Für ihr Engagement wurde sie jetzt mit dem Bundesverdienstkreuz ausgezeichnet.

von Johannes Tran

Es gibt Menschen, für die der Beruf eine Berufung ist. Die kaum zwischen Privatleben und Arbeit trennen, zwischen Feierabend und Schichtbeginn. Die nicht arbeiten, um Geld zu verdienen, sondern weil sie darin die absolute Erfüllung sehen. Weil sie mit ihrer Arbeit einen Sinn für andere stiften wollen. Menschen, bei denen man sich manchmal fragt: Wie schaffen die das eigentlich? Marion Schneider, 69 Jahre alt, ist so jemand.

Bundesverdienstkreuz-Trägerin Marion Schneider steht am Ufer eines Gewässers mit zwei Jungen lins und rechts neben ihr. © NDR Foto: Johannes Tran
Auch heute unternimmt Marion Schneider regelmäßig Ausflüge mit Kindern aus der Einrichtung - hier mit Leon und Collin.

An einem sonnigen Sonnabendmittag steht sie auf dem Fähranleger Teufelsbrück an der Elbe in Hamburg. Der Wind bläst ihr ins Gesicht, kleine Wellen schlagen an den Steg. Rechts und links hält sie zwei Kinder im Arm: den zehnjährigen Collin und den neunjährigen Leon. Marion Schneider und ihr Lebensgefährte haben die beiden am Vormittag im Kinderheim in Bornhöved (Kreis Segeberg) abgeholt und unternehmen einen Tagesausflug mit ihnen. "Ich bin jetzt sowas wie die Oma", sagt sie und lacht. "Jetzt kann ich die Kinder verwöhnen."

Rund 140 Kinder hat sie aufwachsen sehen

42 Jahre lang war sie nicht die Oma, sondern die Mutter. Zumindest so etwas in der Art. "Ich war quasi die Pflegemutter", erklärt Marion Schneider. In ihrem Kinderheim "Gönnebeker Kinder" hat sie jahrzehntelang Kinder aufgezogen, die ansonsten kein richtiges Zuhause gehabt hätten. Kinder, deren Eltern mit der Erziehung überfordert waren. Manche von ihnen waren aggressiv, hatten Aufmerksamkeitsdefizite oder Suizidgedanken. Sie alle hat Marion Schneider aufgenommen. Rund 140 Kinder hat sie in all den Jahren aufwachsen sehen.

Die Geschichte des Kinderheims beginnt im Jahr 1979. Damals ist Marion Schneider Mitte 20 und arbeitet als Betreuerin in einer großen Heimeinrichtung. Sie schließt sich einer Bewegung von Erzieherinnen und Erziehern an, die sich selbständig machen, um kleinere, persönlichere Einrichtungen zu gründen. In der Gemeinde Gönnebek (Kreis Segeberg) eröffnet sie ihr Kinderheim. Zehn Jahre später zieht sie mit ihrer Einrichtung an den jetzigen Standort im Nachbardorf Bornhöved.

Ihre Freunde fragten sie: Wie kannst du so leben?

"Wir waren wie eine große Familie", erzählt Marion Schneider. Bis zu neun Pflegekinder leben zeitgleich in dem Heim, dazu ihr eigener Sohn. In dem Haus hat sie keine eigene abgetrennte Wohnung, nur ein kleines Schlafzimmer mit einem Bad. Mehrere Erzieher unterstützen sie bei der Arbeit. "Meine Freunde haben mich immer wieder gefragt: Wie kannst du so leben?" Aber sie konnte und wollte es so.

Eine Luftaufnahme zeigt das Kinderheim "Gönnebeker Kinder" mit dem Garten und einem Planschbecken . © Kinderheim Gönnebeker Kinder
In diesem Haus lebte Marion Schneider zeitgleich mit bis zu neun Pflegekindern.

Marion Schneider will ihre Heimkinder nicht nur betreuen. Sie will ihnen beibringen, als Erwachsene ein selbständiges Leben führen zu können. Deshalb überträgt sie den Kindern schnell Verantwortung, trifft Entscheidungen im Haus nach Absprache mit ihnen. Jedes Kind bekommt nach dem Einzug eine eigene Aufgabe, die es für die Gemeinschaft erfüllen soll: Einige sind fürs Kochen und Backen zuständig, andere für handwerkliche Reparaturen. "Meine Botschaft an die Kinder war: Ohne euch läuft der Laden nicht", sagt Schneider.

"Sie ist wie ein Elternteil von mir", sagt der Junge

Trotz ihrer engen Bindung zu den Kindern bemüht sie sich, nicht in Konkurrenz zu den leiblichen Eltern zu treten. "Ich habe den Platz der Eltern immer respektiert. Auch wenn viele von denen mit der Erziehung überfordert waren: Ihre Kinder haben sie trotzdem geliebt", erzählt sie. Einige der Kinder fahren deshalb am Wochenende zu ihren leiblichen Eltern und wohnen unter der Woche bei Marion Schneider in der Einrichtung.

Eines der Kinder, die sie aufgenommen hat, ist Leon. Der Junge lebt seit vier Jahren in der Einrichtung. Über Marion Schneider sagt er: "Sie ist wie ein Elternteil von mir. Sie hat ein nettes Herz." Sein Freund Collin wohnt seit drei Jahren in dem Heim. Er sagt: "Sie hat Sachen mit uns gemacht, die andere nicht gemacht haben. Mit uns gespielt, Ausflüge gemacht, Filme geguckt."

Ministerpräsident überreicht ihr das Bundesverdienstkreuz

Nach 42 Jahren hat Marion Schneider vor einigen Monaten die Heimleitung krankheitsbedingt an einen Nachfolger übergeben. Mittlerweile ist sie aus dem Haus ausgezogen. Mit vielen der Kinder von damals steht sie aber weiter in Kontakt - auch mit denen, die schon längst erwachsen sind. "Manche von ihnen haben jetzt selbst Kinder und erziehen sie so, wie sie es bei mir erfahren haben", sagt Schneider.

Für ihr Engagement hat sie am Dienstag das Bundesverdienstkreuz erhalten. Ministerpräsident Daniel Günther (CDU) überreichte ihr und fünf weiteren Männern und Frauen aus Schleswig-Holstein die Auszeichnung in Kiel. Marion Schneider sagte, dass sie die Ehrung stellvertretend entgegengenommen hat: für all die anderen kleinen Heime in Schleswig-Holstein, die Kindern ein Zuhause schenken.

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Dieses Thema im Programm:

NDR 1 Welle Nord | Nachrichten für Schleswig-Holstein | 23.08.2022 | 19:30 Uhr

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