Referendarin Kathrin Klischat steht vor eine Schultafel.

Lehrermangel: Quereinsteiger dringend gesucht!

Stand: 29.05.2022 06:00 Uhr

Lehrerinnen und Lehrer werden händeringend gesucht. Deshalb suchen Schulen in Schleswig-Holstein verstärkt auch nach Praktikern aus anderen Berufen, die umsatteln wollen. An einer Schule in Bad Segeberg wagt eine ehemalige Führungskraft aus der Wirtschaft den Neuanfang als Lehrerin.

von Julian Marxen

Die Schüler im Klassenraum tuscheln, lachen, kramen in ihren Taschen. Dann geht der Gong, die Lehrerin kommt herein, es wird ruhig. "Buenos días!", ruft Kathrin Klischat den Achtklässlern zu. "Buenos días!", schallt es zurück. Es wird weiter Spanisch gesprochen, Sätze im Futur sollen gebildet werden. Wenn es mal stockt, hilft die Lehrerin weiter. Sie wirkt routiniert. Dabei ist Kathrin Klischat erst in der Ausbildung - und das mit Mitte 50. Die gelernte Dolmetscherin mit Hochschulabschluss hat ihr Geld lange Zeit in der freien Wirtschaft verdient. Jetzt macht sie ihr Referendariat an der Gemeinschaftsschule am Seminarweg in Bad Segeberg, um hier bald fest als Spanisch- und Englischlehrerin zu arbeiten. "Es macht mir richtig Spaß, junge Menschen zu motivieren und ihnen etwas beizubringen", strahlt Kathrin Klischat.

Von internationalen Topkonzernen ins Segeberger Lehrerzimmer

Dass sie Schülern einmal Spanisch beibringt, hätte sich Kathrin Klischat früher wohl nie träumen lassen. Lange Zeit arbeitete sie für große Unternehmen, analysierte interne Prozesse, beriet Geschäftsführungen, war auf der ganzen Welt unterwegs, verdiente im Jahr sechsstellig. Doch der Job war hart: "Als Revisorin muss man auch Spionage und Geldwäsche aufdecken, dazu 75 Prozent Reisetätigkeit und sehr viel Stress", erzählt Klischat. Das sei ihr dann irgendwann zu viel geworden. Die gelernte Dolmetscherin brauchte eine Pause, zog die Reißleine. "Meine Auszeit fiel gerade in die Zeit der Flüchtlingskrise. Damals habe ich den Geflohenen Deutsch beigebracht und bin mit den Kindern auch an die Schulen gegangen." Dort wurde sie von Schulleitern und Eltern immer wieder gefragt, ob sie nicht als Lehrerin anfangen möchte. Und das hat sie dann auch getan. Erst einige Jahre als Vertretungslehrerin und jetzt als Referendarin.

Umstieg verlangt einiges ab

Eine Lehrerin steht vor einer Schulklasse und unterrichtet.
Seit 2009 haben fast 1.200 Quer- oder Seiteneinsteiger eine Lehrerlaufbahn in Schleswig-Holstein eingeschlagen.

Doch die Ausbildung ist alles andere als einfach. Die 55-Jährige muss Lehrveranstaltungen besuchen, jede Woche zehn eigene Unterrichtsstunden geben. Vor allem in Pädagogik und Didaktik gibt es noch viel zu lernen. Dazu kommen Besuche von Ausbildern im Unterricht und Zwischenprüfungen. Eineinhalb Jahre dauert das Referendariat. Das sei schon sehr, sehr viel, räumt Kathrin Klischat ein. "Wenn jemand frisch an die Schule kommt und mal eben schnell den Quereinstieg machen möchte, wird er sicher scheitern", ist sich Klischat sicher. "Und vielleicht merkt er dann auch, dass der Lehrerjob eigentlich gar nichts für ihn ist." Deshalb empfiehlt die spät berufene Referendarin Interessierten, erst einmal als Vertretungslehrer in den Job zu schnuppern. Gesucht werden diese auf jeden Fall. Auch die Segeberger Gemeinschaftsschule füllt offene Vertretungsstellen oft mit Studenten auf, damit möglichst keine Stunden ausfallen. Dennoch fehlen qualifizierte Langzeitkräfte.

Quereinsteiger bringen viel Erfahrung mit

"Die Uni in Kiel bildet keine Lehrer für unsere Gemeinschaftsschule ohne Oberstufe mehr aus und die Studenten aus Flensburg bleiben nach ihrem Abschluss meist in der Region", klagt der Segeberger Schulleiter Thilo Philipp. Das treffe vor allem Schulen wie seine, auf dem Land und in der Mitte Schleswig-Holsteins. Deshalb sieht Thilo Philipp im Quereinstieg einen Ansatz, dem Lehrermangel zu begegnen. Und zusätzlich verfügen Menschen aus der Wirtschaft über praktische Erfahrungen, die klassisch ausgebildete Lehrer gar nicht haben können. "Quereinsteiger", erklärt Schulleiter Philipp, "haben in anderen Berufen gearbeitet, kennen die Perspektive, kennen die Sorgen und Nöte der Betriebe und wissen auch hier in der Berufsorientierung, wie sie die jungen Menschen auf das Berufsleben vorbereiten müssen."

GEW: Zugangsvoraussetzungen erleichtern

Egal ob Dolmetscher, Sprachwissenschaftler, Sportmanager oder Journalisten - laut Bildungsministerium in Kiel steigt die Zahl derjenigen, die aus anderen Berufen in den Lehrerjob wechseln. Seit 2009 haben demnach fast 1.200 Quer- oder Seiteneinsteiger den Weg in Schleswig-Holsteins Klassenzimmer gefunden. Doch das reicht bei weitem nicht, um den Lehrermangel komplett aufzufangen. Aktuell seien landesweit mehr als 1.000 Stellen offen, berichtet die Lehrergewerkschaft GEW. Vor allem an Grund- und Gemeinschaftsschulen sowie an Förderzentren. Um den Quereinstieg attraktiver zu machen, fordert GEW-Landesvorsitzende Astrid Henke, "die Zugangsvoraussetzungen für die nicht klassisch ausgebildeten Lehrer zu erleichtern." Außerdem hofft die Gewerkschaft, dass mehr Ausbildungsplätze für den Quereinstieg geschaffen werden.

Wer wissen möchte, welche Qualifikationen es für den Quer-, Seiten- und Direkteinstieg in den Lehrerberuf braucht, findet dazu detaillierte Informationen zum Beispiel auf den Internetseiten des Bildungsministeriums.

Dieses Thema im Programm:

NDR 1 Welle Nord | Moin! Der Tag in Schleswig-Holstein | 26.05.2022 | 16:45 Uhr

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Schule

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