Marita Beine, die Kümmerin von Alveslohe, und Seniorin Annemarie Lepthin steigen in ein Auto. © NDR Foto: Anne Passow

Kümmerin von Alveslohe: Die Frau, die den Bus ersetzt

Stand: 05.07.2022 05:00 Uhr

Viele Schleswig-Holsteiner haben keinen guten Zugang zum öffentlichen Nahverkehr, wie eine Fahrplan-Analyse des NDR ergab. Weil Senioren in Alveslohe sonst nicht zum Arzt oder in den Supermarkt kommen, hat die Gemeinde eine Kümmerin angestellt: Marita Beine ersetzt zum Teil den fehlenden ÖPNV auf dem Land.

von Anne Passow

In Alveslohe (Kreis Segeberg) gibt es die Linie 6541. Sie fährt einmal am Tag, morgens um 5.13 Uhr. Bürgermeister Peter Kroll (parteilos) steht vor dem Fahrplan an der Barmstedter Straße und schüttelt den Kopf: "Wir haben hier so gut wie gar kein Angebot. Bus fährt hier eigentlich niemand." Wie auch? Es fährt einfach so gut wie nichts in Alveslohe. Abgesehen von der Linie 6541 gibt es noch den Schulbus. Der fährt morgens und mittags Richtung Kaltenkirchen und zurück. Und es gibt die AKN, die stündlich über Ulzburg-Süd nach Barmstedt und Elmshorn fährt - und eben auch in Alveslohe hält. "Wir sind froh, dass wir die haben", sagt Peter Kroll. "Sonst wären wir komplett abgehängt." Mit der Bahn fahren größere Kinder in die Schulen, pendeln Menschen nach Elmshorn oder sogar weiter nach Hamburg zur Arbeit - und es gibt auch Verbindungen nach 22 und vor 6 Uhr.

Auto nehmen oder "ein paar Kilometer wandern"

Doch für den Alltag vor Ort bringt diese Verbindung den meisten Menschen nichts. Die Alvesloer fahren Auto. Auch Peter Kroll. "Wenn ich zum Beispiel zum Amt Auenland Südholstein muss, das liegt in Nützen, da komme ich mit dem Bus nicht hin, da müsste ich sonst auf jeden Fall ein paar Kilometer mit meinen Bauakten wandern. Das kommt für mich überhaupt nicht in Frage", erzählt er.

Kümmerin sorgt für Anschluss ans Leben

Es gibt aber Bürger, die haben kein Auto - oder können es nicht nutzen. Dazu gehören auch viele betagte Menschen. Für diese Menschen hat die Gemeinde Alveslohe eine Lösung gefunden: Marita Beine. Seit 2019 ist sie die Kümmerin von Alveslohe, wird auf 450-Euro-Basis aus Gemeindemitteln finanziert. "Es war ursprünglich so gedacht, dass ich ältere Menschen besuche, um die Vereinsamung ein bisschen abzumildern", erzählt die 67-Jährige. De facto ersetzt sie aber auch den fehlenden ÖPNV. "Es gibt viele Angebote hier im Dorf, also Seniorenclub, Hausfrauenbund, einen Spielenachmittag von der Kirche. Aber Viele können halt nicht mehr hin. Die müssen gefahren werden", berichtet Marita Beine. Sie fährt die Senioren auch zum Arzt nach Kaltenkirchen, zur Bank nach Henstedt-Ulzburg, zum Kaffeeklatsch oder zum Einkaufen.

"Wir haben hier so gut wie gar kein Angebot. Bus fährt hier eigentlich niemand." Peter Kroll, Bürgermeister aus Alveslohe

Annemarie Lepthin: "Was Besseres konnte mir nicht passieren"

An diesem Nachmittag ist sie mit Annemarie Lepthin verabredet. Marita Beine hält mit ihrem weißen Auto in einer Wohnsiedlung, geht die Einfahrt hinauf und klingelt. Etwas gehetzt macht Annemarie Lepthin die Tür auf. "Ich habe gerade zwei Störche hinten im Garten fotografiert", erzählt sie. Einkaufszettel und Tasche liegen bereits griffbereit neben der Tür. "Wenn ich Frau Beine nicht hätte, dann könnte ich mein Domizil hier abbrechen. Ich könnte nichts erledigen", sagt die 85-jährige ehemalige Geschäftsfrau. Jahrzehntelang betrieb sie in Alveslohe die Diskothek "Zur Kutsche".

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An diesem Tag soll es zum Fleischer nach Henstedt-Ulzburg, zur Drogerie und zur Bank gehen. Man merkt beiden Frauen an, dass sie ein eingespieltes Team sind. "Wir haben ein besonders gutes Verhältnis. Was Besseres konnte mir nicht passieren. Ich habe Freude, noch hier sein zu dürfen. Das habe ich Frau Beine zu verdanken", erzählt Annemarie Lepthin - und rührt Marita Beine damit zu ein paar Tränchen.

Unangenehm, auf Hilfe angewiesen zu sein

Der Plan, an diesem Nachmittag beim Fleischer einzukaufen, wird nichts. "Krankheitsbedingt geschlossen", steht an einem Schild an der Glastür. "Damit konnte keiner rechnen", Marita Beine überlegt. "Sollen wir noch zum Supermarkt fahren? Die haben auch eine Fleischtheke." Annemarie Lepthin winkt ab. "Das geht schon, ich tau mir was auf", meint sie. Vielen Senioren sei es unangenehm, auf Hilfe angewiesen zu sein, das merke sie immer wieder, erzählt Beine. Dabei sei sie doch genau dafür da.

Die Beiden fahren noch zum Drogeriemarkt, wo sich Annemarie Lepthin unter anderem mit Spülmaschinentabs, Hygienetüchern, Toilettenpapier und Zahncreme eindeckt. Auf dem Rückweg halten sie noch bei der Bank und die Dame holt sich ihre Kontoauszüge. "Ich stünde auf dem Schlauch ohne dich", sagt sie zu Marita Beine, als sie wieder ins Auto steigt - ehe die Kümmerin ihre Kundin und eine alte Bekannte wieder nach Hause fährt.

Kümmerinnen als Bindeglied

In den nächsten Tagen wird Marita Beine noch zwei Damen zu einem Seniorennachmittag fahren, sie wird Senioren zum Arzttermin und geflüchtete Kinder aus der Ukraine in ihre DAZ-Klassen bringen. So wie Marita Beine gibt es viele Kümmerinnen in Schleswig-Holstein, die gerade für ältere Menschen da sind - und ein Stück weit das fehlende ÖPNV-Angebot auf dem Land abfedern. In der Nachbargemeinde Hartenholm zum Beispiel gibt es eine Kümmerin. Und in Schmalfeld (Kreis Segeberg) soll es bald eine geben. Bei der Akademie für Ländliche Räume Schleswig-Holstein (ALR-SH) sind insgesamt 63 Dorfkümmerer registriert. "Es gibt aber mit Sicherheit mehr. Nicht alle sind bei uns gemeldet, denn die Leute arbeiten von ehren- bis hauptamtlich", erklärt Ines Möller von der ALR.

Der Alvesloher Bürgermeister Peter Kroll ist froh über seine Kümmerin. Deshalb hat er sich dafür eingesetzt, dass die Gemeinde die Kosten für den Minijob übernimmt, nachdem eine anfängliche Förderung durch die AktivRegion Holstein Auenland weggefallen war. "Wir brauchen unsere Kümmerin - auch in Zukunft", sagt er.

Ruftaxen und Nachtbusse

Einen besseren ÖPNV hätte er trotzdem gerne. Der Stadtbus Kaltenkirchen könnte Alveslohe noch in seinen Fahrplan mitaufnehmen, schlägt er vor. Ähnlich klappt das bereits in Mildstedt (Kreis Nordfriesland). Die Gemeinde ist - auf eigene Kosten - an den Stadtverkehr Husum angeschlossen. Viele Gemeinden arbeiten außerdem mit Ruftaxen oder Rufbussen, bieten Nachttaxen oder Nachtbusse an, damit junge Menschen Nachts von der Disco wieder nach Hause kommen.

Mehr Geld in die Kommunen?

All das ändert nichts an der Tatsache, dass sich viele Kommunen abgehängt fühlen. "Der Kreis gibt viel Geld aus, aber nicht für den ländlichen Bereich", sagt Bürgermeister Kroll. Er spricht von einer Kreisumlage von mehr als einer Million Euro. "Wenn Sie das als kleine Kommunen zu entrichten haben für den Kreis, dann erwarten Sie auch in bestimmten Bereichen entsprechende Leistungen", sagt er.

21,5 Millionen Euro für den ÖPNV im Kreis

Immerhin 21,5 Millionen Euro betrage der ÖPNV-Haushaltsansatz des Kreises Segeberg für das Jahr 2022 derzeit, sagt Claudius Mozer von der Südwestholstein ÖPNV-Verwaltungsgemeinschaft (SVG), die den ÖPNV für den Kreis Segeberg organisiert. Damit werde der kreisweite Busverkehr sowie anteilig die U1 zwischen Norderstedt-Mitte und der Landesgrenze Hamburg/Schleswig-Holstein finanziert. Dass Buslinien wie die Linie 6541 in Alveslohe stündlich fahren, sieht er trotzdem nicht. Denn etwa 50 Prozent der ÖPNV-Kosten würden aus öffentlichen Mitteln, sprich Steuereinnahmen, gedeckt.

"Nahverkehrsangebote sind deshalb dort besonders dicht, wo die Strukturen ebenfalls dicht sind", sagt Claudius Mozer - und betont: "Stundentakte mit Bussen in strukturschwachen ländlichen Räumen sind im Grunde politisch und auch wirtschaftlich nicht vermittelbar."

On-demand-Angebote für Gemeinden im Blick

Doch es tut sich etwas, die Verkehrswende macht sich auch in den politischen Entscheidungen bemerkbar. So werden - laut Claudius Mozer - im fünften Regionalnahverkehrsplan, über den auch der Segeberger Kreistag dieses Jahr abstimmt, zum Beispiel On-demand-Angebote für Gemeinden auf dem Land stärker ins Visier genommen.

Eine stündlich fahrende Linie 6541 wird es in Alveslohe also wohl niemals geben. Aber vielleicht wird die Kümmerin der Gemeinde künftig Unterstützung bei ihrer Aufgabe bekommen, Menschen von A nach B zu bringen.

Dieses Thema im Programm:

NDR 1 Welle Nord | Moin! Schleswig-Holstein – Von Binnenland und Waterkant | 04.07.2022 | 19:05 Uhr

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