Eine Zwergseeschwalbe brütet im Naturschutzgebiet Bottsand bei Wendtorf . © NDR

Im Zeichen der Zwergseeschwalbe - Vogelwart auf Bottsand

Stand: 02.07.2022 11:27 Uhr

von Kai Peuckert

Ein kleine Holzhütte mitten im Nirgendwo. Um sie herum hüfthohes Gras und hinter ihr ein paar Dünen. In der einzigen festen Behausung im Naturschutzgebiet Bottsand bei Wendtorf (Kreis Plön) wohnt Carsten Harrje momentan. "Das hat Camping-Feeling. Strom liefern Solar-Panele. Fließend Wasser gibt es nicht." Das holt er sich vom gut einen Kilometer entfernten Campingplatz. Dahin führt nur ein kleiner Trampelpfad, denn seit den 1960er Jahren herrscht hier eigentlich Betretungsverbot.

Vögel beobachten statt in den Urlaub fahren

Vogelwart Carsten Harrje blickt im Naturschutzgebiet Bottsand (Kreis Plön) durch ein Fernglas © NDR Foto: NDR
Vögel beobachtet statt Urlaub: Carsten Harrje mit dem Fernglas.

Eigentlich arbeitet Carsten Harrje beim Naturschutzbund (NABU) Schleswig-Holstein, ist für das Schutzgebiet auf der Halbinsel verantwortlich. Momentan hat er Urlaub und den verbringt er als Vogelwart im Schutzreservat - ehrenamtlich. Er ist der einzige, der sich hier frei bewegen kann. Alle paar Wochen wechseln sich Vogelfreunde aus ganz Deutschland ab und beobachten die Vögel. Harrje wollte das schon lange machen, in diesem Jahr passte es auch zeitlich. Und es ist gerade eine spannende Phase.

Zwergseeschwalben-Population sinkt

Auf einem gut 4.000 Quadratmeter großen Areal ganz im Westen der Halbinsel zur Förde hin brütet eine der beiden letzten Zwergseeschwalben-Kolonien an der Schleswig-Holsteinischen Ostseeküste. "Bis vor 20, 30 Jahren gab es ganz viele Kolonien an der Ostseeküste, die waren mal hier und mal da. Dann waren es viele Jahre 120 Paare", sagt Harrje. Heute seien es nur noch gut 80 Brutpaare. Die zweite Kolonie bezieht immer im Juni einen ungestörten Bereich des Lensterstrandes bei Grömitz (Kreis Ostholstein) an der Lübecker Bucht.

Rote Liste: Zwergseeschwalben vom Aussterben bedroht

Das Landesamt für Landwirtschaft, Umwelt und Ländliche Räume (LLUR) geht davon aus, dass neben den Paaren an der Ostsee noch etwa 300 an der Westküste brüten. Mitte Juni veröffentlichte das LLUR zum sechsten Mal seine Rote Liste "Die Brutvögel Schleswig-Holsteins". Zum ersten Mal stufte es Europas kleinste Seeschwalbenart als "vom Aussterben bedroht" ein. Insgesamt sind 38 Prozent der 216 Brutvogelarten im Land mindestens gefährdet - etwa zehn Arten mehr als bei der fünften Auflage vor zwölf Jahren.

Zwergseeschwalben brauchen Ruhe und wenig Vegetation zum Brüten

Wie jeden Tag während seiner Vogelwärter-Tätigkeit macht sich Carsten Harrje auf den Weg zum Brutfeld an der Einfahrt zum Wendtorfer Hafen. Die Trampelpfade, die von der Holzhütte in Richtung Westen führen, sind noch schmaler als die in Richtung Campingplatz. Etwa 15 Minuten zu Fuß durch unwegsames Gelände sind es von der Hütte bis zum Brutfeld. Einen abgelegeneren Platz gibt es auf dem Bottsand nicht, denn die Bodenbrüter nisten nicht überall, weiß Harrje: "Sie brauchen ungestörte Strandabschnitte, die nicht zugewachsen sind. Das heißt, die neu entstanden sind in den letzten fünf oder sechs Jahren, da sie sonst wieder zuwachsen würden", sagt Harrje. Entsprechendes Pioniergelände sei an der Ostsee aber sehr selten.

Vegetation wird von Brutfeld entfernt

Damit die Brutsaison im Juni auf dem Bottsand trotzdem starten kann, bereiten Harrje und viele Ehrenamtliche den Brutplatz jedes Jahr aufs Neue vor. Anfang April entfernen sie mit schwerem Gerät die Vegetation auf einer Fläche von etwa 60 mal 70 Metern und zäunen sie ein. "Wir betreiben einen ziemlichen Aufwand. Es ist das zehnte Jahr, in dem wir einen Zaun aufbauen - einen Prädatorenzaun. Das ist ein Maschendrahtzaun mit einem Geflügelnetz oben drüber, der dann 1,80 Meter hoch ist", erklärt Harrje. Zusätzlich gibt es Strom drauf, damit ein Fuchs oder ein Marder nicht über den Zaun klettern oder springen kann.

Aufgeben ist keine Option

Vogelwart Carsten Harrje hockt vor einem Elektrozaun © NDR Foto: NDR
Vogelwart Carsten Harrje hockt vor einem Elektrozaun.

Der Zaun wurde nach und nach aufgestockt. "In den Anfangsjahren hatten wir einen Ein-Meter-Zaun, da ist der Fuchs dann tatsächlich drübergesprungen", sagt Harrje. Der Fuchs habe Gelege zerstört und Küken und einige Alttiere nachweislich getötet. Ohne diesen Zaun wäre der Bruterfolg gleich Null und die Art schon gar nicht mehr auf dem Bottsand, so der Vogelwart. Manchmal fragt er sich, ob sich der Aufwand noch lohne, für eine Art, die wohl alleine nicht überleben würde. Aber aufgeben ist für ihn auch keine Option. Darum macht er weiter und hofft, dass die Durststrecke bald überwunden sein wird und die Population wieder steigt. Denn Biologen sind sich sicher: Mit jeder Art, die ganz verschwindet, steigt die Möglichkeit, dass Ökosysteme zusammenbrechen. Die Folgen für den Menschen sind nicht abschätzbar.

Gefahr aus der Luft

Inzwischen ist Harrje an der letzten größeren Düne angekommen - zum Brutfeld sind es noch etwa 100 Meter. Unterwegs hat er mehrfach angehalten und mit seinem Fernglas Ausschau gehalten. Immer dann, wenn er die Stimmen anderer bedrohter Vögel gehört hat. Denn die Halbinsel ist auch das Revier von Flussseeschwalben, Küstenseeschwalben, Sandregenpfeifern oder Rotschenkeln. "Nun muss es schnell gehen", sagt Harrje. Wenn er den Schutz der Düne verlässt, um zum Beobachtungsturm am Rand des Feldes zu gelangen, steigen die Alttiere auf und lassen ihre Jungen allein. "Wenn die Vögel zu lange in der Luft sind, bemerken die Möwen, dass da was los ist." Und gegen fliegende Fressfeinde wie Sturmmöwen oder Turmfalken kann er nichts machen.

Am Zaun muss es schnell gehen

Schnellen Schrittes geht Harrje einmal ums halbe Feld herum zum Beobachtungsturm, prüft mit einem Messgerät schnell, ob der Zaun noch unter Strom steht, und klettert dann in seinen gut vier Meter hohen Ausguck. Langsam kehren die Schwalben zurück. "Es wäre entsetzlich, wenn die Zwergseeschwalbe aussterben würde, weil es mal der Charaktervogel der Ostseeküste gewesen ist - zumindest des Bottsandes", sagt er. Es wäre einfach schade, wenn Touristen und Einheimische den 20 bis 25 Zentimeter kleinen Vogel nicht mehr kennenlernen würden.

Schlupferfolg bedeutet nicht automatisch Bruterfolg

Eine Zwergseeschwalbe füttert ein Küken © NDR Foto: NDR
Nur schwer zu finden: Eine Zwergseeschwalbe füttert eines ihrer Küken.

Durch eine schmale Öffnung im Turm hat Harrje beste Sicht auf die 41 brütenden Paare, im Schnitt haben sie zwei Eier gelegt. "Wir haben in den letzten Jahren fast 100 Prozent Schlupferfolg gehabt", sagt Harrje. Aber Schlupferfolg ist nicht gleich Bruterfolg. "Die Sterblichkeit ist, nachdem sie geschlüpft sind, relativ groß." Denn nicht nur die Fressfeinde zu Land und aus der Luft bedrohen die jungen Vögel. "Wenn es mal Regen gibt, dann verklammen die Tiere, wenn sie noch ganz jung sind. Nach zwei, drei Tagen können sie auch nicht mehr gehudert werden - das heißt, die passen nicht mehr unter die Altvögel drunter. Wenn sie dann zu viel Kälte und Nässe abbekommen, sterben sie ab", erläutert der Vogelwart. Außerdem können Wettereinflüsse die Eltern ablenken. Dadurch haben Möwen die Chance, die nur gut sieben Zentimeter großen Küken zu erbeuten. In diesem Jahr sind bereits die ersten 15 Küken dem Wetter zum Opfer gefallen. "Sie sind in eine Schlechtwetterperiode gekommen", sagt Harrje. Inzwischen sind aber wieder gut 30 Küken da.

Fisch aus Ostsee und Gewässern im Hinterland

"Wir haben festgestellt, dass es die Kolonien an der Ostsee immer nur dort gibt, wo es einen ungestörten Strand gibt. Aber auch im Hinterland irgendwelche Seen, Teiche oder Gräben, die fischreich sind und wo Amphibien drin sind", erklärt Harrje. Denn die Zwergseeschwalbe ist ein Stoßtaucher - das bedeutet, sie erbeutet Fische im Sturzflug. Wenn die Wasseroberfläche vom Wind aufgewühlt wird, kann sie ihre Beute nicht sehen. Dann weicht sie vom Bottsand zum Beispiel auf den Barsbeker See oder den Passader See aus. "Im letzten Jahr haben wir zum Beispiel festgestellt, dass relativ viele kleine Hechte verfüttert worden sind. In anderen Jahren hatten wir auch mal Kaulquappen", berichtet Harrje. Die Kombination aus Ostsseefischen wie Glasaalen und Seenadeln und Futter aus den Binnengewässern ist wichtig für die Schwalben und sorgt dafür, dass die Paare das Brutfeld nach etwa drei Wochen mit durchschnittlich einem Küken verlassen.

Zwergseeschwalben werden bis zu 20 Jahre alt

Doch auch wenn es einmal weniger sind, bricht nicht gleich die Population zusammen. "Die Tiere können sehr alt werden, bis zu 20 Jahre. Rein theoretisch ist es so, dass wenn ein Küken groß wird, es auch 20 Jahre alt wird. Dann wird der Bestand gehalten. Wenn ein Jahr ausfällt, macht das erstmal nichts, aber wenn das viele Jahre ausfällt, weil die Bedingungen schlecht sind, dann geht die Population runter", sagt Harrje und das sei in Schleswig-Holstein passiert. Denn auch, wenn ein Küken es schafft, haben die kleinen Vögel Feinde, die ein Altwerden verhindern können.

Bruterfolg schwer messbar

Wie erfolgreich sie auf dem Bottsand sind, hängt auch davon ab, wieviele Jungtiere zurückkommen. Bisher weiß Harrje nur, dass jedes Paar im Schnitt mit einem Jungtier das Brutfeld verlässt. Um den Bruterfolg wirklich messen zu können, hat er mit seinem NABU-Team vor drei Jahren begonnen, die Vögel mit farbigen Ringen zu markieren. Die haben den Vorteil, dass man die Tiere zum Ablesen nicht einfangen muss, sondern sie anhand der Farbe durchs Fernglas zuordnen kann. "In diesem Jahr haben wir erstmals festgestellt, dass ein Tier, das wir 2019 markiert haben, als Altvogel wiedergekommen ist. Und das ist natürlich ein schöner Erfolg, dass es aus eigener Nachzucht weiter geht", freut sich Harrje.

Anfang Juli brechen die Vögel Richtung Afrika auf

Für heute ist der Vogelwart mit seiner Arbeit fertig. Er hat alle Küken, die da sein müssten, gesehen. Er klettert wieder aus dem Beobachtungsturm. Noch einmal steigen die Alttiere auf. Schnellen Fußes läuft er hinter die erste höhere Düne, damit auf dem Brutfeld wieder Ruhe einkehren kann. Anfang Juli sind auch die letzten Küken flügge und verlassen mit ihren Eltern den Bottsand in Richtung Winterquartier in Afrika. Dann hofft Harrje elf Monate lang, dass es wieder eines schafft, gemeinsam mit den anderen Zwergseeschwalben im kommenden Jahr zurückzukehren.

Turmfalken plündern Kolonie

Doch wenige Tage später erhält diese Hoffnung einen herben Dämpfer. Ein Turmfalken-Pärchen wurde wiederholt am und sogar im Brutfeld gesichtet. Harrje berichtet, dass es zunächst von den Alttieren erfolgreich vertrieben wurde. Inzwischen sind aber nur noch wenige kleine Küken auf dem Feld zu sehen. Er geht davon aus, dass die Falken bei ihrer Jagd doch erfolgreich gewesen sind. Viele Seeschwalbeneltern bringen zwar noch Fisch in die Kolonie, müssen diesen aber dann selbst Essen. "Das zu erleben war für den Vogelwart sicher genauso deprimierend wie für die Alttiere selbst", so der Vogelwart, der inzwischen davon ausgeht, dass es in diesem Jahr kein Jungtier schaffen wird, das Brutfeld flügge zu verlassen. Dennoch steht jetzt schon fest: "Wir lassen uns nicht unterkriegen. 2023 bauen wir den Zaun auch wieder auf." Auch die Vegetation wird wieder entfernt werden - in der Hoffnung, dass der Bestand der vom Aussterben bedrohten Art sich nach Möglichkeit bald wieder erhöht.

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Dieses Thema im Programm:

Schleswig-Holstein Magazin | 28.06.2022 | 19:30 Uhr

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