Teilnehmer einer "Corona-Leugner" Demonstration in Heidelberg. © picture alliance Foto: Daniel Kubirski

Fast 40 Prozent mehr politisch motivierte Kriminalität in Schleswig-Holstein

Stand: 28.07.2022 14:32 Uhr

Der Verfassungsschutzbericht für 2021 zeigt: Die Fälle politisch motivierter Gewalt sind gestiegen. In der rechtsextremistischen Szene verlagern sich die Aktivitäten offenbar von der realen in die virtuelle Welt.

Der Verfassungsschutz hat eine Zunahme politisch motivierter Kriminalität in Schleswig-Holstein um fast 40 Prozent beobachtet. "Die Feinde unserer Demokratie versuchen - von innen wie von außen und in der virtuellen wie in der realen Welt - aktuelle Krisen für ihre Zwecke zu nutzen", sagte Innenministerin Sabine Sütterlin-Waack (CDU) am Donnerstag bei der Vorstellung des Verfassungsschutzberichts. Mit Sorge beobachten die Experten, dass Extremisten aktuelle Krisen, wie die Corona-Pandemie oder auch den Krieg gegen Ukraine für ihre Zwecke nutzen. Die Sicherheitsbehörden müssten daher gut und auf dem neuesten Stand der Technik ausgestattet sein, forderte die Ministerin.

Proteste gegen Corona-Maßnahmen im Blick

Konkret beobachteten die Verfassungsschützer 2021 eine Zunahme politisch motivierter Kriminalität um 381 Fälle oder knapp 37 Prozent. Bei den Taten ohne Gewalt gab es sogar einen Anstieg um mehr als 39 Prozent. Entsprechende Fälle gab es demnach vor allem im Umfeld von Protesten gegen Corona-Maßnahmen sowie im Zusammenhang mit der Bundestagswahl. Extremisten unterschieden sich in einem wesentlichen Punkt von bürgerlichen, besorgten oder verärgerten Milieus, sagte der stellvertretende Leiter des Verfassungsschutzes, Wolfgang Klonz. In Telegram-Gruppen und anderen Kanälen werde kundgetan: "Wir müssen dem Protest neue Nahrung geben." Deutlich gestiegene Preise seien ein guter Grund für Bürger, ihrer Sorge und Angst Ausdruck zu verleihen.

Rechte Szene verstärkt in der virtuellen Welt unterwegs

Insbesondere in der rechtsextremistischen Szene stellten Verfassungsschützer eine verstärkte Verlagerung von Aktivitäten von der realen in die virtuelle Welt fest. Trotz leichten Rückgangs der Gewaltdelikte bleibe die Gewaltbereitschaft der Szene auf hohem Niveau, sagte Sütterlin-Waack. Dem Spektrum werden rund 1.200 Norddeutsche zugerechnet, 20 mehr als 2020. 350 gelten als gewaltorientiert (2020: 340). Die NPD verlor 20 Mitglieder, nun sind es 100.

Zunahme bei Islamisten

Bei Islamisten gab es ein Plus - 866 Personen werden als solche eingestuft (2020: 846). Weiterhin werden 750 Menschen dem Salafismus zugerechnet. "In Deutschland und damit auch in Schleswig-Holstein besteht weiterhin ein abstrakt hohes Gefährdungspotential für islamistisch motivierte Anschläge", sagte Sütterlin-Waack.

Leichter Anstrieg im Linksextremismus

Im Linksextremismus verzeichneten die Behörden einen leichten Anstieg von 730 auf 735 Personen, der gewaltorientierten Szene gehören weiter 340 an. Auffällig waren Aktivitäten im Bereich der Klimabewegung. Es ist der linken Szene laut Bericht aber nicht gelungen, angestrebte Vernetzungen ins zivilgesellschaftliche Spektrum auszubauen.

Im Antisemitismus gab eine Zunahme um 28 auf 73 Taten. Schwerpunkt waren Volksverhetzungen (51 Fälle). Überwiegend handele es sich um im Internet begangene Straftaten, sagte Klonz.

26 Prozent mehr sogenannte Reichsbürger und Selbstverwalter

Bei den sogenannten Reichsbürgern und Selbstverwaltern registrierten die Verfassungsschützer einen Anstieg um 26 Prozent im Vergleich zum Vorjahr auf 480 Personen. Er sei vor allem mit den Corona-Einschränkungen zu erklären. Die Szene fasse staatliche Maßnahmen grundsätzlich als unrechtmäßige Repressalien auf. 17 Personen hatten waffenrechtliche Erlaubnisse und besitzen 58 Waffen. 15 Personen sind aus rechtsextremistischen Bestrebungen bekannt.

Radikalisierung über soziale Medien

Außerdem gibt es sogenannte Delegitimierer. Sie lehnten staatliche Institutionen ab und machten sie verächtlich, um einen Wechsel des politischen Systems herbeizuführen. Wie hoch das Potenzial der Radikalisierung über soziale Medien in der Corona-Pandemie war, zeigt laut Verfassungsschutz der öffentliche Telegram-Kanal "Freie Schleswig-Holsteiner". Er habe innerhalb weniger Wochen knapp 8.000 Abonnentinnen und Abonnenten gehabt. Zweck des Kanals war demnach laut Eigenbeschreibung eine Bündelung des "Widerstands" im Norden.

Kritik von Buchholz

Der extremismuspolitische Sprecher der FDP-Landtagsfraktion, Bernd Buchholz, betonte, die Tätigkeit des Verfassungsschutzes werde immer wichtiger. Gleichzeitig kritisierte er: "Blumige Aussagen der Innenministerin zur Verbesserung der Ausstattung des Verfassungsschutzes helfen wenig. Wir erwarten anhand von Zahlen, Daten und Fakten konkrete Angaben darüber, wie, womit und wann die Innenministerin diese für die Stärkung des Verfassungsschutzes formulierten Ziele angehen und erreichen will." Er forderte, der Staat müsse das schleswig-holsteinische Verfassungsschutzgesetz überarbeiten und modernisieren.

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Dieses Thema im Programm:

NDR 1 Welle Nord | Nachrichten für Schleswig-Holstein | 28.07.2022 | 11:00 Uhr

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