Eine Frau kniet an einem Grab. © NDR

"Ich weiß nicht mal, wie er starb": Corona im Pflegeheim

Stand: 26.10.2020 09:49 Uhr

Im Hanns-Lilje-Heim in Wolfsburg starben im Frühjahr 47 Corona-Infizierte. Sonja Kättner-Neumann (NDR) und Arnd Henze (WDR) schildern die Ereignisse in einem Dokumentarfilm.

Im März kommen die ersten Nachrichten. Zwölf mit Corona infizierte Bewohnerinnen und Bewohner sind in einem Wolfsburger Pflegeheim gestorben. Es folgen weitere - viele weitere. Sonja Kättner-Neumann und Arnd Henze haben Beteiligte im Juli und August mit der Kamera begleitet, bei der Recherche wurden sie von einem Team des "Süddeutsche Zeitung Magazins" unterstützt. "Das Auffallendste war, dass alle Beteiligten immer noch hoch traumatisiert waren", sagt Arnd Henze im Gespräch mit NDR.de. "Für die Pflegekräfte hatte die psychologische Nachsorge gerade erst begonnen." Und die Angehörigen, so stellten die Filmemacher fest, hatten das dringende Bedürfnis, über das Erlebte zu sprechen.

Trauerphase "noch viel, viel intensiver"

"Uns sagten einige, sie würden seit März, April darauf warten, dass sie mit den Verantwortlichen des Heims darüber reden können, wie ihre Familienmitglieder gestorben sind, was man vielleicht noch hätte tun können", berichtet Henze. "Diese Trauerphase, die ohnehin schon schwer ist, war hier noch viel, viel intensiver." Aus der Situation könne man für die Zukunft lernen, sagt Sonja Kättner-Neumann: "Viele Probleme wären so gar nicht entstanden, wenn es von Anfang an eine andere Kommunikation gegeben hätte, wenn alle Beteiligten einbezogen worden wären."

"Wir wollten, dass alle Seiten zu Wort kommen"

Wut und Unverständnis durch fehlenden Austausch - hier zu klären und zu erklären ist ein Ziel des Films. "Dies ist die größte Katastrophe in einem Pflegeheim, die es je in Deutschland gegeben hat", so Henze. "Wir haben die Zahl der Toten mitbekommen und dass Anzeige erstattet wurde. Aber wir haben nicht verstanden, was dort vor sich geht, was die Pflegekräfte und die Angehörigen erlebt haben. Da ist ein Vakuum entstanden, eine Lücke - und eine solche Lücke wird mit Gerüchten und Spekulationen gefüllt. Deshalb haben wir gesagt: Lass uns diese Geschichte erzählen, lass sie uns richtig erzählen, verständlich erzählen. Wir wollten, dass alle Seiten zu Wort kommen und ihre Sichtweise beschreiben, um so das Puzzle zusammenzufügen."

"Auch jetzt lässt es einen nicht los"

Sonja Kättner-Neumann und Arnd Henze (rechts im Bild) bei Dreharbeiten im Hanns-Lilje-Pflegeheim in Wolfsburg. © NDR/WDR
Sonja Kättner-Neumann und Arnd Henze (rechts im Bild) drehten unter strengen Corona-Schutzvorgaben im Hanns-Lilje-Heim.

Die Dreharbeiten erstreckten sich über viele Wochen im Sommer. In Schutzanzügen, unter strengen Hygiene-Vorgaben und nach Vorlage negativer Corona-Tests wurde gefilmt - in einer Einrichtung, die fast 50 Bewohnerinnen und Bewohner verloren hatte. "Nach jedem Drehtag saßen wir abends zusammen, stundenlang, und haben uns darüber unterhalten, was wir erlebt hatten", so Kättner-Neumann. "Es war sehr intensiv und emotional sehr berührend. Aber auch jetzt lässt es einen nicht so richtig los. Als wir den Film geschnitten haben und man die Aufnahmen wieder gesehen hat, kamen auch die Emotionen wieder hoch."

Engagement eines Pflegers beeindruckt Filmemacherin

Der Pfleger Mirel Osmanovic steht neben Pflegeheim-Bewohnerin Elfriede Reduhn. © NDR
Mirel Osmanovic wollte im Heim unterstützen, obwohl er selber krank war.

Besonders beeindruckt hat sie einer der Pfleger: Mirel Osmanovic infizierte sich selbst mit Corona und arbeitete dann mit Erlaubnis des Gesundheitsamts auf dem Infiziertenflur des Heims weiter - eine schwere Zeit, in der mehrere Patienten starben. Eine Ärztin schickte ihn schließlich nach Hause, weil er schlicht zu krank war, um zu arbeiten. Doch die kranken Heimbewohner ließen ihm keine Ruhe: Täglich rief er beim Amt an und fragte, ob er sie nicht doch wieder betreuen dürfe.

Sollte es in einem anderen Pflegeheim einen solchen Corona-Ausbruch geben, wäre er sofort bereit, dort zu unterstützen, sagte Osmanovic dem Filmteam. Denn er wisse, wie schlimm das sei. Den Pflegekräften allgemein merkte man die Angst an, so Kättner-Neumann: Wie geht es mit dem Coronavirus im Herbst und Winter weiter? Kann sich die Situation wiederholen?

"Das darf dieser Gesellschaft nicht wieder passieren"

Für eine Wiederholung der Lage aus dem Frühjahr aber, betont Henze, würde es keine Entschuldigung geben. Das deutlich zu machen, ist ein weiteres Anliegen des Films. Im Frühjahr kam die Situation plötzlich, die Heime wurden überrumpelt, es war eine Überforderungssituation, sagt Henze. Jetzt aber sind die Einrichtungen vorgewarnt und dürfen so etwas nicht erneut geschehen lassen: einen massiven Ausbruch mit vielen Toten, keine Beteiligung der Angehörigen, Abschottung. "Die Bewohner haben sehr stark unter der Isolation gelitten. Das darf dieser Gesellschaft nicht wieder passieren. Darauf muss jedes Heim eine Antwort finden."

Werden wir allen gerecht?

Für die Autoren bleibt am Ende eine Frage zurück. Diese wird sie beschäftigen, bis sie die Reaktionen der Beteiligten kennen. Haben sie ihr Ziel erreicht, die unterschiedlichen Sichtweisen klar darzustellen? "Ja, es sind Dinge schiefgelaufen. Dies wollen wir zeigen, aber ohne Personen Vorwürfe zu machen, die in der harten Situation alles gegeben haben", sagt Henze. "Uns bleibt zu betonen, dass uns - bei aller journalistischen Distanz - ein wahnsinniger Vertrauensvorschuss entgegengebracht wurde. Dem wollen wir gerecht werden, bei allen kritischen Fragen und ohne etwas zu beschönigen. Für diesen Vertrauensvorschuss verspüren wir auch eine große Dankbarkeit."

Dieses Thema im Programm:

NDR Story | 09.11.2020 | 22:00 Uhr

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