Valery Gergiev und Anna Netrebko: Zu lange mitgespielt?
Weil russische Künstler und Künstlerinnen wie Valery Gergiev und Anna Netrebko nicht auf Distanz zu Putin gehen, werden weltweit Konzerte abgesagt. Müssen Künstlerinnen und Künstler eine politische Haltung einnehmen? Musikjournalist Axel Brüggemann meint ja.
Valery Gergiev ist nicht mehr Chef der Münchner Philharmoniker, Münchens Oberbürgermeister Dieter Reiter hat einen der berühmtesten Dirigenten der Welt mit sofortiger Wirkung entlassen, nachdem der mit Putin befreundete Musiker ein Ultimatum unbeantwortet gelassen hatte. Anna Netrebko distanzierte sich zwar zumindest vom Krieg in der Ukraine, tritt am Mittwoch aber dennoch nicht in der Elbphilharmonie auf. Axel Brüggemann ist Musikjournalist, arbeitet momentan viel fürs Fernsehen, schreibt unter anderem für das Kulturportal "crescendo". In seinem aktuellen Newsletter geht er auf den Angriffskrieg in der Ukraine und die Reaktionen der Kulturszene ein.
Herr Brüggemann: "Zeit zu handeln" ist Ihre Forderung. Der Oberbürgermeister Münchens hat gehandelt, aber Sie fragen, warum er das erst jetzt getan hat.
Axel Brüggemann: Ich frage das nicht erst heute, warum er es nicht selbst getan hat, sondern man hat es in der Vergangenheit immer wieder gefragt. Seit 2014 eigentlich schon, als Valery Gergiev die homophoben Gesetze in Russland für gutgeheißen hat, danach, als Russland in die Krim einmarschiert ist und dann auch, als Gergiev ein Konzert in Palmyra gegeben hat, zu Ehren von Assad. Das waren alles Momente, bei denen man wusste: Valery Gergiev stellt sich hinter eine diktatorische Kriegspolitik, die menschenverachtend ist von Wladimir Putin. Und jedes Mal habe ich den Intendanten der Münchner Philharmoniker Paul Müller angeschrieben und gefragt: "Wie könnt ihr den noch halten?" Es kam immer die gleiche Antwort: 'Es handelt sich hier um die private Meinung von Valery Gergiev, und die werden wir nicht kommentieren'. Das zeigt auch die ganze Situation, in der wir stecken.
Wir wissen seit Jahren, Valery Gergiev lebt von Putins Geld und von Putins Gnaden, und wir haben dieses Spiel auch mitgespielt. Deshalb ist es jetzt leicht zu sagen: Ja, Gergiev muss gehen, Netrebko muss gehen, alle müssen gehen. Aber es ist auch höchste Zeit, dass wir uns mal fragen: Warum haben wir dieses Spiel so lange mitgespielt?
Wie können wir damit umgehen, wenn jemand eine solche politische Haltung hat, wie Sie das eben beschrieben haben?
Brüggemann: Ich glaube, wir haben ein großes Missverständnis, dass ist mir in den letzten Tagen klar geworden, wenn wir über politische Haltung von Künstlern reden. Jeder Künstler kann jede politische Haltung haben, die er möchte. Er kann konservativ sein, links - er kann sogar linksradikal sein. Er kann denken, was er will, und ich finde tatsächlich, das gehört auch nicht aufs Podium. Ich gehöre auch zu den Kritikern von Igor Levit, der vor jedem Konzert parteipolitische Statements abgibt. Ich finde, das hat in der Musik nichts zu suchen.
Es geht hier nicht um Politik. Ich glaube, das ist wichtig. Es geht hier um Humanismus. Es geht hier darum zu sagen: Ich bekenne mich zu den Rechten von Homosexuellen. Ich bekenne mich dazu, dass wir keinen Angriffskrieg gegen ein souveränes Land führen. Das hat für mich relativ wenig mit Politik im Sinne von Parteipolitik zu tun, sondern, es hat für mich etwas zu tun mit ganz selbstverständlichen, humanistischen Aspekten, für die Komponisten wie Mozart, Beethoven, Brahms und Bruckner alle stehen. Wie will ich denn als Aggressor oder als jemand, der die Rechte anderer Menschen nicht zulässt, diese Musik verkörpern? Das geht nicht. Und noch mal: Es geht hier nicht um Politik. Es geht hier um grundsätzliche Eckpunkte humanistischen Verhaltens, und das ist eigentlich nicht so schwer, sich dazu zu bekennen.
Von heute aus gesehen, wo wir uns in diesem Krieg befinden, kann man das doch gar nicht ausblenden und gegeneinander halten. Politische Haltung ist doch die humanitäre Haltung.
Brüggemann: Genau. Man liest das ja bei diesen ganzen Reaktionen von unterschiedlichen Menschen im Netz, dass man sagt: Wollen wir denn eine Gewissenspolizei? Wollen wir eine künstlerische Politik-Polizei haben? Wir müssen klar kriegen, dass es darum in diesem Fall nicht geht. Es geht nicht um politische Gesinnung, um parteipolitische Gesinnung. Ich glaube, das ist der Diskurs, in dem wir es noch mal gerade kriegen müssen.
Aber ich würde das Wort Gesinnung gegen Haltung austauschen. Jeder Künstler sollte eine Haltung haben. Ich empfehle in diesen Zeiten für alle, die das diskutieren, den Roman von Klaus Mann, "Mephisto", der sich an Gustav Gründgens abgearbeitet hat. Der im Geflecht der Nationalsozialisten als Schauspieler auf der Bühne gestanden hat und sich danach legitimieren musste.
Wenn Anna Netrebko sagt: "ich bin doch nur Künstlerin" - das reicht momentan gerade nicht. Ich bin Künstlerin, die sich zu etwas bekennen muss. Und ich glaube, es ist richtig, dass wir als Menschen, die miteinander auskommen wollen und Kunst feiern wollen, von Beethoven diese Grunderwartung an unsere Künstlerinnen und Künstler stellen.
Was bedeutet das jetzt für die Zukunft?
Axel Brüggemann: Ich glaube, es bedeutet für die Zukunft, es wird nicht mehr lange reichen, mit dem Finger auf Künstlerinnen und Künstler aus Russland zu zeigen, sondern wir müssen fragen: Welche Menschen in unserem System profitieren davon? Managements, Orchester, Musiker, die dann gerne auch wieder in russischen Orchestern spielen wollen. Das ist ja ganz oft auch so ein Geschäft von: 'Ich lade dich ein, du lädst mich ein'. Es gibt sehr viele finanzielle Interessen im Sinne von Ruhm und Macht, die nicht in Russland aufhören, sondern in denen wir vernetzt sind.
Ich habe in meinem Newsletter über Hajo Frey, den Intendanten von Sotschi gesprochen. Der war vorher Intendant des Brucknerhauses und davor Intendant des Theaters in Bremen und hat den Opernball in Dresden organisiert, wo er Wladimir Putin eingeladen hat. Der hat ganz klar den Auftrag, Kultur für Putin auch politisch zu nutzen und mit Kultur eben keinen Humanismus zu verbinden, sondern Propaganda. Und diese Propaganda kommt tief in unserem Kultur- und in unserem Musiksystem an. Viele von uns machen da mit. Ich hoffe, was passieren wird ist, dass wir uns ehrlich machen und fragen: Ist die Kultur, die wir machen, wirklich selbstbestimmt so wie wir das wollen? Oder sind wir Teil eines ziemlich korrupten Systems? Und wenn wir diese Debatte führen, dann haben wir schon viel gewonnen.
Das Gespräch führte Raliza Nikolov.
