Buchcover: Jean Marie Le Clezio - Bretonisches Lied © Kiepenheuer & Witsch Verlag

"Bretonisches Lied": Le Clézio über Glück und Trauma seiner Kindheit

Stand: 07.04.2022 09:55 Uhr

Der französische Nobelpreisträger Jean-Marie Gustave Le Clézio erkundet in seinen Büchern ferne Länder. In seinem neuen Buch reist er in seine Heimat, die Bretagne. "Bretonisches Lied" beinhaltet zwei Erzählungen.

von Jan Ehlert

Der Bretagne verdankt Jean-Marie Gustave Le Clézio seinen Familiennamen. "Ar Kleuzio" bedeutet auf bretonisch "mit Farn und Stechginster bewachsene Böschungen". Als Kind verbrachte er einige Sommer dort, in dem kleinen Ort Saint-Marine. Und die Liebe zu dem Landstrich hat er sich erhalten.

Zur Bretagne habe ich eine vertraute, fast familiäre Beziehung. Denn ich bin in der Überzeugung aufgewachsen, dass wir gebürtige Bretonen sind und dass wir, soweit sich unsere Linie zurückverfolgen lässt, durch dieses unsichtbare Band fest mit dieser Gegend verbunden sind. Leseprobe

Le Clézio schildert glückliche Kindheitserinnerungen aus der Bretagne

Es waren glückliche Sommer, Kindheitserinnerungen von geheimnisvollen Schlössern, großen Festen und ersten Mutproben. Doch das bretonische Lied, das Le Clézio anstimmt, hat viele Moll-Töne. Denn vieles, was ihm als Kind so wunderbar erschien, ist heute verschwunden: Bauwerke, Traditionen, die bretonische Sprache.

Es ist schwer, eine Verbindung zwischen dem damaligen Dorf und dem herzustellen, was heute daraus geworden ist. Die Welt hat sich gewandelt, das versteht sich von selbst. Aber warum geht mir das so nah? Was für ein Bild muss ich in meinem Herzen wie ein kostbares Geheimnis bewahrt haben, dass mich dieses Zerrbild mehr als alle anderen stört und mir das Gefühl vermittelt, mir sei ein Schatz gestohlen worden? Leseprobe

Kleine Geschichten von vergessenen Helden und Orten

Diesen Schatz versucht Le Clézio zu bergen - indem er von ihm erzählt und Menschen, Orte, Gefühle wieder aufleben lässt. Doch er bleibt Beobachter. Anders als etwa Annie Ernaux oder Edouard Louis schildert er nicht die Innenwelt seines damaligen Ichs, sondern blickt von außen auf die verlorene Zeit, auf die Bretonen und ihre Geschichte, genauso wie auf seine eigenen Erlebnisse. Wunderbar fängt er so das Gefühl der Nostalgie ein, in kleinen anrührenden Geschichten von vergessenen Helden und Orten.

"Das Kind und der Krieg": Mahnung und Warnung

Wesentlich emotionaler wird er jedoch in der zweiten Geschichte dieses Bandes "Das Kind und der Krieg". Denn dieses Kind ist er. Le Clézio wurde 1940 in Nizza geboren. Als er drei Jahre alt war, explodierte im Vorgarten seiner Großmutter eine Fliegerbombe - und der Krieg trat in sein Leben.

Als die Bombe explodierte, war ich noch ein Kind, das seine Gefühle nicht in Worte fassen konnte. Mein ganzes Wesen ist in diesem Schrei. Es ist ein schriller Schrei, von dem ich den Eindruck habe, wenn ich mich zu erinnern versuche, dass er nicht aus meiner Kehle dringt, sondern aus der ganzen, mich umgebenden Welt. Er verschmilzt mit dem Lärm der Detonation, der mir fast das Trommelfell zerreißt. Er bildet ein Ganzes mit meinem Körper. Mein Körper schreit, nicht meine Kehle. Ich habe diesen Schrei nicht gewollt. Ich habe diesen Augenblick nicht gewollt. Das bedeutet Krieg für ein Kind. Es hat nichts von alledem gewollt. Leseprobe

Man kann diesen sehr persönlichen Text nicht ohne die aktuellen Bilder aus der Ukraine lesen - sie drängen sich auf und machen die Geschichte noch erschütternder. Denn was Le Clézio vor fast 80 Jahren erlebte, erleben Kinder noch heute. Was für Auswirkungen hat so etwas? Der Krieg habe ihn gewalttätig gemacht, gibt Le Clézio zu. Aber der Krieg, so sagte er bei der Verleihung des Literaturnobelpreises, habe ihn auch zum Schreiben gebracht. Und so die Möglichkeit gegeben, seine Geschichte aufzuschreiben - als Mahnung und Warnung für heutige Leserinnen und Leser: Dass der Krieg nicht nur an den Fronten stattfindet, sondern in ganzen Generationen von Kindern traumatische Erinnerungen zurücklässt.

Bretonisches Lied

von Jean-Marie Gustave Le Clézio
Seitenzahl:
192 Seiten
Genre:
Roman
Zusatzinfo:
Aus dem Französischen von Uli Wittmann.
Verlag:
Kiepenheuer & Witsch
Veröffentlichungsdatum:
07. April 2022
Bestellnummer:
978-3-462-00170-9
Preis:
22 Euro €

Dieses Thema im Programm:

NDR Kultur | Neue Bücher | 07.04.2022 | 12:40 Uhr

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Romane

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