Neue Bücher 2023: Die literarischen Neuerscheinungen
Viele interessante Romane, Essays und Erzählungen erscheinen 2023. Auf diese Neuerscheinungen freut sich die Literaturredaktion von NDR Kultur im neuen Jahr besonders.
2023 gibt es Neues von den Buchpreisträgerinnen Helga Schubert und Katharina Hacker. Eugen Ruge zieht es nach der untergegangenen DDR und dem untergegangenen Sowjetreich noch weiter in die Vergangenheit zurück: Sein neues Werk heißt "Pompeji". Juli Zeh hat bereits ein neues Buch veröffentlicht - diesmal gemeinsam mit dem Autor Simon Urban. International hat der Buchmarkt ebenfalls viel zu bieten. John Irving legt mit "Der letzte Sessellift" nach sieben Jahren endlich einen neuen Roman vor. Der Brite John Ironmonger stellt nach einem Wal und einem Dugong dieses Mal einen Eisbären in den Mittelpunkt seiner Erzählung. Und Nobelpreisträgerin Olga Tokarczuk begibt sich in "Empusion" in ein Sanatorium - eine Anspielung auf Thomas Manns "Zauberberg"?
Andrzej Stasiuk: "Grenzfahrt"
Juni 1941 am Ufer des Bug im Osten Polens. Lauernd stehen sich hier zwei hochgerüstete Mächte gegenüber: Deutschland und die Sowjetunion. Es herrscht Stillstand - die Stimmung bedrückend. Alle belauern sich, keiner weiß, wann es losgeht, wann Nazi-Deutschland zum Angriff übergeht. In dieser Stimmung spielt der Roman. Andrzej Stasiuk ist dabei immer ganz nah an seinen Figuren. Er fängt ihre Gefühle, ihre Angst ein - den bedrohlichen Dämmerzustand, in dem sie sich befinden. Darunter der Fährmann und ein jüdisches Geschwisterpaar auf der Flucht.
Andrezej Stasiuk gilt in Polen als wichtigster jüngerer Gegenwartsautor. Er wurde national und international bereits mit vielen Literaturpreisen ausgezeichnet.
Daniel Glattauer: "Die spürst du nicht"
In Daniel Glattauers neuem Roman geht es, wie er selbst sagt, "um Menschen, von denen wir nichts wissen wollen, weil wir sie nicht spüren". Konkret geht es um ein Flüchtlingskind aus Somalia. Zwei Familien machen Urlaub in Italien, aber die Idylle wird bald gestört und will sich auch nach der Rückkehr nach Österreich nicht wieder einstellen. Wieder nutzt Glattauer dabei die modernen Kommunikationsmittel als literarische Form, diesmal mit Chats und Kommentaren aus Internet-Foren. Der Autor legt dabei immer wieder den Finger in die Wunde unserer vermeintlich heilen Welt. Ein abwechslungsreiches und kurzweiliges Buch.
Judith Hermann: "Wir hätten uns alles gesagt"
Mit ihrem Debüt "Sommerhaus, später" hat Judith Hermann eine ganze Generation in den Sog ihrer betörenden Sprache gerissen. Es folgten Erzählungsbände und Romane wie "Nichts als Gespenster", "Aller Liebe Anfang", "Lettipark" und zuletzt, 2021, "Daheim". Der poetische Judith Hermann-Sound hat immer etwas Schwebendes und Geheimnisvolles - auch in ihrem neuen Buch "Wir hätten uns alles gesagt". Dennoch ist Judith Hermanns Sprache klar und präzise. "Wir hätten uns alles gesagt" ist eine poetologisch-psychologische Tiefenschürfung.
Helga Schubert: "Der heutige Tag. Ein Stundenbuch der Liebe"
Bachmann-Preisträgerin Helga Schubert macht ihrem schwer kranken Mann nach über 50 Jahren Beziehung noch einmal eine rührende Liebeserklärung. In "Der heutige Tag" schreibt sie über "all die Dinge, die das Leben inmitten der Widrigkeiten des Alters lebenswert machen". Ob es um Blasenkatheter geht oder die 25 Tabletten, die die Erzählerin ihrem Mann jeden Tag zuteilt, ob um das gemeinsame Frühstück im Wintergarten oder das Händestreicheln am Abend. Hier schreibt eine, die ihren Mann liebt und pflegt. Und das hat man so noch nie gelesen. Hier erzählt eine vom Ausatmen eines Lebens.
Teresa Präauer: "Kochen im falschen Jahrhundert"
Es soll ein wunderbarer Abend werden. Bis ins kleinste Detail hat sich die Gastgeberin ihre erste Party in der neuen Wohnung ausgemalt. Alle Gäste sind gesettelte Gutverdiener, bemüht locker, dabei spießig bis in jede Faser. Oberflächlich eingespielt plätschern die nichtssagenden Gespräche durch den Abend. Die Freundlichkeit der Gastgeberin ist nur Fassade, innerlich ist sie ein einziger Krampf. Sie rechnet mit Scherben, ruinierten Fußböden und Patzern ihres Partners. Ganz abgesehen von den zwischenmenschlichen Dramen, die sich anbahnen. Die Österreicherin Teresa Präauer erzählt diese Geschichte eines Abends in mehreren Anläufen. Am Anfang malt sie das Ideal aus - dann setzt sie neu an, und nach und nach kommt die korrigierte Wahrheit ans Licht. Ein zynisch-witziger Roman, scharf, klar und auf die Zwölf.
Jakob Guanzon: "Überfluss"
Henry lebt in prekären Verhältnissen in den USA. Zusammen mit seinem Sohn wohnt er in einem Truck, die Ladefläche dient als Lager ihrer wenigen Habseligkeiten. Um den achten Geburtstag seines Sohnes gebührend zu feiern, wollen die beiden bei McDonalds essen und in einem Motel übernachten. Dort aber kommt es zu einem Zwischenfall. Jakob Guanzons Roman spielt auf zwei Zeitebenen. Die zweite reicht bis in Henrys eigene Kindheit zurück. "Überfluss" überzeugt durch seine Komposition, aber auch durch das psychologische Feingefühl des Autors für seine Figuren. Dadurch verkommt der Roman auch nicht zu einer abgeschmackten Erzählung über Armut.
Ulrike Draesner: "Die Verwandelten"
Ulrike Draesner schreibt immer wieder über die Folgen von Krieg, Flucht und Vertreibung. Auch in "Die Verwandelten" geht es im Kern darum. Die Anwältin Kinga erbt überraschenderweise eine Wohnung in Wrocław (Breslau). Dort hatte sich ihre verstorbene Mutter Alissa in ihren letzten Lebensjahren auf die Suche nach ihren schlesischen Wurzeln gemacht. Denn Alissa wurde in einem nationalsozialistischen "Lebensborn"-Heim geboren und später von einer Münchener Familie adoptiert. So verlor sie den Bezug zu Reni, mit der sie ihre ersten Lebensjahre verbrachte. Wie die Geschichten der beiden Frauen und Kinga zusammenhängen, das erzählt Ulrike Draesner atemlos und mitreißend auf über 600 Seiten. Dabei bewegt sich dieser Roman sprachlich auf höchstem Niveau: Draesner findet Worte für das Verstummen, mischt deutsche, polnische und schlesische Wörter und Redewendungen virtuos.
Clemens J. Setz: "Monde vor der Landung"
Mit "Monde vor der Landung" stellt uns der österreichische Schriftsteller Clemens J. Setz den tragischen Eigenbrödler und Verschwörungstheoretiker Peter Bender vor. Er war Anhänger der sogenannten Hohlerde-Theorie und glaubte an sich als einen neuen Propheten. Setz rekonstruiert dieses Leben einfühlsam und ideenreich mit all den Kriegstraumata aus dem Ersten Weltkrieg, den Diskriminierungen zur Zeit der Weimarer Republik bis hin zur Vernichtung im Nationalsozialismus. Ein packendes Plädoyer für die Toleranz von Andersdenkenden. Oft sind nicht sie die Gefahr, sondern die Gesellschaft, in der sie leben.
Dirk Gieselmann: "Der Inselmann"
"Der Inselmann" erzählt die Geschichte eines Kindes, das mit seinen Eltern Anfang der 60er-Jahre auf einer abgelegenen Insel heranwächst, bis die Schulbehörde es aus den natürlichen Zusammenhängen mit Bäumen und Wasser, Tieren und Gesteinen herausreißt und den Jungen in eine Einrichtung für Schwererziehbare einweist. Die Traumwelt zerbricht, bleibt aber in all den Jahren bis zum Erwachsenenalter als Sehnsucht erhalten. Dirk Gieselmanns Debüt ist ein Roman mit vielen zarten Tönen über eine Odyssee der besonderen Art, über Einsamkeit und Eigensinn.
Annette Pehnt: "Die schmutzige Frau"
Eine sterile Neubau-Wohnung über den Dächern der Stadt: Wenig geschieht, niemand taucht auf, nichts gibt es zu tun. Das ist die öde Realität für die Ich-Erzählerin in Annette Pehnts neuem Roman. Die Rollen sind klar verteilt: Er, der intellektuelle, akkurate Gutverdiener, unterdrückt subtil-aggressiv seine devote Frau. Dabei ist sie ihm geistig mindestens ebenbürtig. Reden soll sie jedoch nur auf sein Stichwort. Bedrückend ist der Selbsthass der Erzählerin. Man will sie schütteln, wenn sie sich unnötig kleinmacht und in endlosen Schleifen die Fehler allein bei sich sucht. Doch langsam bahnt sich die Erkenntnis darüber den Weg durch den Roman.
Michael Köhlmeier: "Frankie"
Im Alter wird die Publikationsliste immer schneller immer länger: Michael Köhlmeier, einer der ganz Großen der österreichischen Literatur, hat offenbar noch so viel zu erzählen. In "Frankie" erzählt er von einem Jugendlichen aus Wien, dessen Leben völlig durcheinandergerät, als sein Großvater nach vielen Jahren im Gefängnis wieder frei ist. Der Junge hat Angst vor dem unbekannten Alten. Aber er ist auch fasziniert vom großen Geheimnis des langjährigen Sträflings: Was genau hat er verbrochen - und warum? Rebellion, Freiheit und die Faszination des Bösen - eine neue Variation der großen Köhlmeier-Themen.
Juli Zeh und Simon Urban: "Zwischen Welten"
Nachdem sie in "Unterleuten" gewesen ist und "Über Menschen" geschrieben hat, begibt sich Juli Zeh dieses Mal "Zwischen Welten". Ihren neuen Roman hat sie gemeinsam mit Simon Urban geschrieben. Schon während des Germanistikstudiums haben Stefan und Theresa in ihrer WG viel über Politik diskutiert und gestritten. Dann hat Theresa den Hof ihres Vaters übernommen, Stefan ist stellvertretender Chefredakteur und Leiter des Kulturressorts bei der renommierten Hamburger Wochenzeitung "Der Bote" geworden. Als sie sich nach zwanzig Jahren zufällig wieder über den Weg laufen, endet ihr erstes Wiedersehen in einem Desaster. Die beiden beschließen, noch einmal von vorne anzufangen. Es entsteht ein offener und sehr emotionaler Austausch über polarisierte Fragen wie Klimapolitik, Gendersprache und Rassismusvorwürfe.
Raphaela Edelbauer: "Die Inkommensurablen"
Mit großer Spannung wurde der neue Roman von Raphaela Edelbauer erwartet. "Die Inkommensurablen" erzählt vom fiebrig-erregten Leben in der österreichischen Hauptstadt kurz vor dem Beginn des Ersten Weltkriegs. Hans, ein junger Mann, stapft am letzten Julitag 1914 durch die riesige Stadt. Der große europäische Krieg ist ganz nah, diese menschengemachte Katastrophe. In Wien, diesem brodelnden Kessel, in dem neue, umstürzlerische Ideen sich mit der althergebrachten Habsburger-Verschnarchtheit mischen, überwältigt ihn dann die komplett neue Erfahrung eines Lebens in Prunk und Verschwendung und erotischer Freizügigkeit. "'Die Inkommensurablen' wirkt reichlich überkonstruiert", meint Alexander Solloch von NDR Kultur. "Ein toller Roman voll Zeitkolorit, der die wichtigen Fragen der damaligen Zeit aufgreift", hält eat.Read.sleep.-Podcast-Host Jan Ehlert dagegen. Am besten Sie entscheiden selbst.
Arno Geiger: "Das glückliche Geheimnis"
Bereits erschienen ist der neue Roman von Arno Geiger. Der wundervolle Erzähler aus Vorarlberg überrascht uns zwölf Jahre nach "Der alte König in seinem Exil" wieder mit einer ganz persönlichen Geschichte: Wir erfahren, wie Arno Geiger beim Versuch, Schriftsteller zu werden, immer wieder gegen eine Mauer rannte, wie er die Liebe fand und eine Art Doppelleben führte. Einer, der am Abend im Fernsehen auftrat und sich am nächsten Morgen auf der Müllstation tiefstmöglich in den Papiercontainer hinabbeugte. Auf der Suche nach Interessantem, nach Hinterlassenschaften, die Arno Geiger nicht zu Brei zerstampft wissen wollte: weggeworfene Bücher, Brief-Konvolute, Tagebücher.
John Irving: "Der letzte Sessellift"
Mit 80 Jahren übertrifft sich der Autor von voluminösen Weltbestsellern wie "Garp und wie er die Welt sah", "Das Hotel New Hampshire" oder "Gottes Werk und Teufels Beitrag" noch einmal selbst: Auf 1.088 Seiten lässt John Irving - diesmal in Aspen, Colorado - den "letzten Sessellift" schweben. Natürlich ganz Irving'sch alles andere als einfach geradeaus.
Eugen Ruge: "Pompeji"
Eugen Ruge mal ganz anders. Nicht von der untergegangenen DDR ("In Zeiten des abnehmenden Lichts") oder dem Sowjetreich ("Metropol") handelt sein neuer Roman. In "Pompeji" erzählt er eine Geschichte aus der Antike. In ihr dürften sich jedoch aktuelle Bezüge aufspüren lassen: Was, wenn die Menschen die Katastrophe zwar unmittelbar vor Augen haben, sich aber entscheiden, nichts zu tun?
Olga Tokarczuk: "Empusion - Eine naturheilkundliche Schauergeschichte."

Olga Tokarczuk schreckt vor nichts zurück. Braucht sie auch nicht. Denn ganz gleich, welche Stoffe sie sich vorknöpft, sie lockt sie mühelos in ihr nobelpreisgeadeltes Literaturuniversum. Diesmal geht es - ähnlich wie in Thomas Manns "Zauberberg" - in ein Sanatorium für Lungenkrankheiten. Allerdings nicht in die Schweiz, sondern nach Niederschlesien. Aber auch Tokarczuks Roman spielt im Vorfeld des Ersten Weltkriegs. Ein literarisches Menetekel? Wir dürfen gespannt sein.
Katharina Hacker: "Über Leben mit Tier"
Scherz, Ironie und tiefere Bedeutung - alles ist drin in den "Minutenessays" von Katharina Hacker. Die Buchpreisträgerin ("Die Habenichtse") wendet sich diesmal in ihren Kurztexten dem staunenswerten Leben der Tiere zu. Vor allem ihrer staunenswerten Fähigkeit, sich immerzu um ihr eigenes Wohlergehen zu kümmern. Da lässt sich doch sicher einiges lernen!
Felwine Sarr: "Die Orte, an denen meine Träume wohnen"

Bekannt geworden ist der Musiker, Verleger und Ökonom Felwine Sarr hierzulande vor allem zusammen mit Bénédicte Savoy als Co-Autor des Reports "über die Restitution afrikanischer Kulturgüter". Nach Debatten-Büchern über die Zukunft Afrikas überrascht der Senegalese jetzt mit seinem ersten Roman. Und natürlich geht es auch in dieser Brudergeschichte wieder um Gegenwart und Zukunft Afrikas.
Arno Frank: "Seemann vom Siebener"
Nach seinem großartigen Debütroman "So, und jetzt kommst du!"- die tragikomische Geschichte eines Vaters, der sich als Hochstapler entpuppt - kommt nun der zweite Roman von Arno Frank: "Seemann vom Siebener". Der Siebener-Sprungturm ist gesperrt, warum eigentlich? Sechs Menschen an einem heißen Tag im Freibad und ein großes Geheimnis - dieses Buch weckt die Vorfreude auf einen schönen Sommer.
Raoul Schrott: "Inventur des Sommers"
Was sagt einer wie Raoul Schrott, dessen historischer Weitblick gerne schon mal zurückgeht bis Homer und darüber hinaus, zur Gegenwart? Wie haben sich seine literarischen Sinne durch Lockdowns und Krieg verändert? Die Formen von Essay und Lyrik miteinander verknüpfend, schenkt Schrott uns in "Inventur des Sommers" Einblicke in seine Versuche, die schwer fassbare Gegenwart wenn schon nicht zu begreifen, so doch zumindest in eine Sprache zu bringen.
Sven Regener: "Die Frau mit dem Arm"
Dieses Buch war längst fällig. Denn in "Ärger mit der Unsterblichkeit" (2015) hat Sven Regener das Leben seines Freundes Andreas Dorau längst noch nicht auserzählt. 2023 kommt endlich mehr aus dem schillernden Kosmos des Popsängers ("Fred vom Jupiter"), betrachtet durch die keinen Quatsch übersehende Brille des Schriftstellers und Musikers aus Bremen - ein Heidenspaß.
John Ironmonger: "Der Eisbär und die Hoffnung auf morgen"
Der Brite John Ironmonger hat ein gutes Gespür für Themen. Sein Roman "Der Wal und das Ende der Welt" nahm die Folgen einer Pandemie vorweg, seine Erzählung "Das Jahr des Dugong" beschäftigte sich mit dem (Über-)Leben in einer zerstörten Umwelt. Und auch in seinem neuen Roman geht es um unsere Zukunft - und den Klimawandel. "Der Eisbär und die Hoffnung auf morgen" hat gute Voraussetzungen das Buch der Stunde in 2023 zu werden.
Hans-Joachim Schädlich: "Das Tier, das man Mensch nennt"
Homo homini lupus - Der Mensch ist dem Menschen ein Wolf. Diesen Satz hat der englische Philosoph Thomas Hobbes berühmt gemacht und damit seine tiefe Skepsis gegenüber der menschlichen Zivilisation zum Ausdruck gebracht. Hans-Joachim Schädlich hat mit seinen 87 Jahren schon viel Unrecht erlebt und literarisch gestaltet und dennoch seine Sanftmut und Friedfertigkeit niemals eingebüßt. Es ist spannend, seine neuen Gedanken und Geschichten zu lesen, in einer Zeit, die wieder sehr von Rohheit und Gewalt bestimmt ist.
