Stand: 23.08.2019 16:00 Uhr

Diagnose Demenz: Eine letzte gemeinsame Reise

von Stefanie Groth

Was bleibt von uns, wenn uns unsere Erinnerungen nach und nach abhandenkommen? Wenn wir zunehmend vergesslich werden, nicht mehr allein für uns sorgen können? Sich unser Wesen so sehr verändert, dass andere uns gar nicht mehr wiedererkennen? Diagnose: Demenz. So wenig wie gesellschaftlich offen darüber geredet wird, so groß ist die Angst, die umgeht. Angst davor, an Demenz zu erkranken. Dass es uns selbst oder einen unserer Liebsten trifft. Die Fotografin Sibylle Fendt beschäftigt sich in ihren Arbeiten oft mit den Dingen, die ihr Angst machen. Der Bildband "Gärtners Reise" zeigt Fendts Dokumentation der letzten gemeinsamen Reise eines Ehepaars - zwei Jahre nachdem sie die Diagnose Demenz erhalten hatten.

Lothar Gärtner schiebt den Rasenmäher eifrig durch seinen großen Garten. Es gibt viel zu tun. Noch mal alles auf Vordermann bringen, bevor es losgehen kann. Er und seine Frau wollen auf große Reise gehen. Der Rasen ist noch saftig und grün vom Sommer. Nur die Bäume haben schon deutlich Blätter gelassen und kündigen den nahenden Herbst an. Lothars Frau Elke steht im dicken Strickkleid mit etwas Abstand zu ihm auf der Wiese, die Hände vor dem Bauch verhakt, Blick direkt in die Kamera. Als wolle sie den Betrachter willkommen heißen, hier daheim in ihrem Garten. 

Der Wohnwagen ist angekuppelt, der bordeauxrote Jeep läuft schon. Von Lothar keine Spur, doch Elke Gärtner sitzt startklar auf dem Beifahrersitz. Wartet. Auf dem Kopf der Sommerhut, unter dem sich ihre weißen Haare locken. Die Reise kann losgehen. Vom Heimatort Eppingen in Süddeutschland geht es über Polen, Litauen, Lettland bis hin nach Estland. Von dort weiter nach St. Petersburg und zurück.

Gemeinsam mit dem Wohnwagen durch Europa

Zwischenhalt. Ein Campingplatz in Breslau. Hinter dem Wohnwagen fummelt Lothar etwas aus dem Stauraum heraus. Vor dem Wohnwagen sitzt Elke, zurückgelehnt im Campingstuhl, Blick direkt in die Kamera. Auf dem Tisch Tomaten, die darauf warten, zu Salat verarbeitet zu werden.

Das gute Leben. So schlicht, so schön. Lothar und Elke Gärtner sind ihr ganzes Leben gereist. Ein blinder Fleck auf ihrer Landkarte: das Baltikum. Im Spätsommer 2008 machen sie sich auf die Reise. Die Berliner Fotografin Sibylle Fendt der Agentur Ostkreuz begleitet das Ehepaar Gärtner dabei. Sie erinnert sich: "Lothar war von seinem Tatendrang bestimmt, ständig in Aktion und plante, was als Nächstes anstand. Elke war sowieso in ihrer eigenen Welt. Sie spazierte ziellos in der Gegend herum, wir waren immer auf der Hut, dass sie uns nicht verloren ging."

Eine aggressive Form der Demenz

Elke, die allein durch einen Birkenwald spaziert. Man sieht sie vor lauter Bäumen kaum. Elke, die allein über eine Landstraße mitten im Grünen spaziert, sich vom Wohnmobil entfernt. Lothar und Elke auf einer Bank im Wald, die Füße baumeln, sein Arm um ihre Schultern.  Er erzählt ihr etwas, ihr Blick geht nach unten. Lothar, der allein neben dem Wohnwagen steht mit suchendem Blick. Lothar, der Elke die Haare onduliert. Lothar, der Elke anzieht. Lothar, der sich müde das Gesicht reibt. "Lothar hatte kein Problem, sich in der Gegenwart einer Fremden, die ich damals für ihn war, der Krankheit seiner Frau zu stellen", erzählt Sibylle Fendt. "Ich bewunderte die Offenheit und in gewisser Weise auch seine Gelassenheit, mit der er der Erkrankung seiner Frau begegnete."

Elke hatte zwei Jahre zuvor erfahren, dass sie an Demenz erkrankt ist. Es ist eine aggressive Form. Zwar ist sie zum Zeitpunkt der Reise körperlich noch total fit, kann aber nicht mehr sprechen. Wenn man das nicht weiß - die Fotos verraten davon nichts. "Jeden Abend zählte und nummerierte ich meine Filmrollen", erinnert sich Sibylle Fendt. "Und jeden Tag beobachtete ich von Neuem das ungleich gewordene Paar, das aber doch so harmonisch zusammenspielte."

Leise, zutiefst romantische Bilder vom Ehepaar

Elke steht hinter dem Wohnwagen. Wie bestellt und nicht abgeholt. "Oft ahmte Elke Handlungsabläufe von Lothar nach, Stunden später, wenn sie gar keinen Sinn mehr machten", sagt Sibylle Fendt. "Zum Beispiel stellte sie sich hinter den Wohnwagen, um beim Einparken zu helfen, obwohl dieser schon lange aufgebockt war."

Ein Pflaster am Schienbein etwa oder die Brandwunde an der Hand lassen ahnen, dass Lothar sich um seine Frau kümmern muss, weil Elke nicht mehr auf sich Acht zu geben weiß. Es sind leise, zutiefst romantische Bilder vom Ehepaar Gärtner. Die Trauer schleicht sich erst mit dem Wissen um die Diagnose Demenz ein.

Das ganze Leben miteinander geteilt

"An Demenz hat mich die Vorstellung geängstigt, dass man sein Selbstbewusstsein verliert, seine Persönlichkeit. Dieser Angst wollte ich begegnen, sie kennenlernen und verstehen", sagt die Fotografin. Elke wirkt auf vielen Fotos wie eine junge Frau, kindlich sogar. Vielleicht sind es die kurzen Kleider, die sie auch in hohem Alter noch trägt? Vielleicht ist es ihre Präsenz, die aus den Bildern spricht, eine Selbstverständlichkeit, die zu sagen scheint: "Hier bin ich! Und? Was machen wir nun?"

Solange man um ihre Erkrankung nicht weiß, wirkt sie jedenfalls ganz und gar nicht wie jemand, der sich nach und nach auflöst. Der Bildband zeigt weder eine erkrankte Frau noch einen vor Sorge umkommenden Mann. Was man sieht, sind ein Mann und eine Frau, deren Vertrautheit verrät, dass sie ihr ganzes Leben miteinander geteilt haben. Und einfühlsame Bilder, die zutiefst rühren und zu Herzen gehen.

Gärtners Reise

Seitenzahl:
120 Seiten
Genre:
Bildband
Zusatzinfo:
Festeinband, 2. Auflage, 18,7 x 23,8 cm, 120 Seiten, 53 Farbabbildungen, Deutsch, Englisch
Verlag:
Kehrer Verlag
Preis:
35,00 €

Dieses Thema im Programm:

NDR Kultur | 25.08.2019 | 17:40 Uhr

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