Stand: 19.03.2008 14:53 Uhr

"Wichern heute?" - Interview mit Dietrich Sattler

von Nils Zurawski
Dietrich Sattler, Vorsteher des Rauhen Hauses in Hamburg © Rauhes Haus
Der Theologe Dietrich Sattler ist Vorsteher der Stifung "Das Rauhe Haus".

Dietrich Sattler, geb. 1943, ist seit 1995 Vorsteher der Stiftung "Das Rauhe Haus". Er studierte Theologie in Wuppertal, Bonn und Göttingen, war Pastor in Bremen und arbeitete in der Öffentlichkeitsarbeit an verschiedenen Stellen in der evangelischen Kirche.

Er war Chefredakteur und Geschäftsführer beim Deutschen Allgemeinen Sonntagsblatt und ist Mitglied im Aufsichtsrat des Diakonischen Werks Hamburg.

NDR.de: Welche Bedeutung hat Wichern heute für das Rauhe Haus? Was von seinen Ideen wird noch gelebt, trotz der Veränderungen über die vergangenen 175 Jahre?

Dietrich Sattler: Es hat sich natürlich viel geändert. Es hat sich aber auch schon zu Wicherns Zeit viel geändert. Wenn er wieder herkäme, könnte ich ihm zeigen, dass einiges, was er selbst ins Leben gerufen hat, in veränderter Form nach wie vor vorhanden ist: Wir betreuen nach wie vor Kinder und Jugendliche. Wir bilden nach wie vor Sozialarbeiter und Diakone an der Hochschule für soziale Arbeit und Diakonie aus. Das Dritte, was ich ihm zeigen würde, wäre unser hauseigener Verlag. Wichern gründete den Verlag "Agentur des Rauhen Hauses". Dieser gab damals "Die fliegenden Blätter aus dem Rauhen Haus" heraus. Heute produziert der Verlag Literatur für die kirchliche Arbeit.

Trotz vieler Veränderungen auch innerhalb der Mitarbeiterschaft gibt es hier einen großen Konsens, was die Haltung den Menschen gegenüber anbelangt. Wir begegnen den betreuten Menschen auf Augenhöhe, oder theologisch ausgedrückt: "Wir nehmen jeden als Geschöpf Gottes ernst - und Geschöpf Gottes sein heißt, willkommen auf Erden sein". Das war die Haltung Wicherns, und wir setzen das mit unseren heutigen Methoden und Mitteln in die soziale Praxis um.

Und was wir wieder von ihm gelernt haben, ist das Denken in kleinen Einheiten. Wicherns Prinzip damals war revolutionär, und eine Alternative zu den Arbeits- und Waisenhäusern, die es seinerzeit für Kinder und Jugendliche gab: keine großen Einrichtungen, keine Erziehungskasernen, sondern überschaubare Gemeinschaften. Wenn Sie unsere Projekte anschauen, sind unsere Wohnangebote alle ähnlich klein.

NDR.de: Wichern war kein Revolutionär, eher das Gegenteil. Was war das Besondere seiner Reformen, die ja auch eine Kritik an der offiziellen Amtskirche waren?

Dietrich Sattler: Wichern hatte einen scharfen Blick für soziale und politische Verwerfungen seiner Zeit, wozu vor allem die Verarmung weiter Bevölkerungskreise durch wirtschaftliche Veränderungen und das Aufkommen der Industrialisierung gehörten. Er hatte einen zweiten scharfen Blick auf die Entchristianisierung. Und er sah, dass die Kirche weder gegen das eine, noch gegen das andere etwas tat. Mit dem Begriff der Inneren Mission verbinden sich sozusagen zwei Aspekte: Die Re-Christianisierung der Gesellschaft und die Bekämpfung von Armut und Verwahrlosung. Dabei war das Motto:  "Die Kirche muss zu den Leuten gehen, nicht die Leute zur Kirche."

Heute kann man sagen, dass er mit der Inneren Mission den Aktionsradius der Kirche und des Christentums erheblich erweitert hat. Er hat damit den Protestantismus in die Moderne geführt. Dessen war er sich gar nicht bewusst, denn politisch war er konservativ.

NDR.de: Wie nachhaltig war das, was er angestoßen hat?

Dietrich Sattler: Mit der Gründung des Centralausschusses für die Innere Mission der Evangelischen Kirche schuf er eine Dachorganisation, die alle verschiedenen Projekte der Inneren Mission in den einzelnen Regionen und Landeskirchen zusammengefasste. Dieser Centralausschuss war der Vorläufer des heutigen Diakonischen Werkes der Evangelischen Kirche. Die Innere Mission war als eine Reformbewegung gedacht, aus der heute ein konfessioneller Wohlfahrtsverband geworden ist.

NDR.de: Hat die Wichern'sche Prägung durch die Erweckungsbewegung heute noch die Bedeutung, die sie damals hatte?

Dietrich Sattler: Das ist heute nicht mehr dasselbe, was es damals war. Wichern und seine Mitstreiter hatten das Ganze so konzipiert: Christen kümmern sich um arme Leute. Sie rufen sie auch zum Glauben, aber nicht in bedrängender Form. Das Rauhe Haus der Wichernzeit war gedacht als eine Lebens-, Arbeits- und Glaubensgemeinschft zwischen Kindern und Jugendlichen sowie Erwachsenen. Und die Mitarbeiter, die hier waren, verstanden ihre Arbeit als unmittelbar aus ihrem persönlichen Glauben erwachsen. Das ist heute nicht mehr 100-prozentig der Fall.

Zwei Entwicklungen haben dazu geführt. Zum einen die Professionalisierung, für die Wichern auch mit verantwortlich ist. Und die zweite Entwicklung ist die Säkularisierung unserer Gesellschaft. Das können Sie ablesen an den Zahlen der Kirchenmitglieder. Christ sein, hat heute verschiedene Intensitäten, die Sie auch unter unseren Mitarbeitern finden. Den Ansatz des "Begegnen auf Augenhöhe" vermitteln wir auch heute, aber eins zu eins wie damals, ist es heute nicht mehr.

NDR.de: Wie passen sein Engagement für die Kinder und Jugendlichen im Rauhen Haus und seine Strafvollzugsreformen in Berlin-Moabit zusammen?

Dietrich Sattler: Ich glaube, der Verbindungsbegriff bei Wichern ist "retten". Er wollte auch im Rauhen Haus die Kinder, die er geholt hat, retten - so nannte er das immer. Einmal wollte er sie für ein christliches Leben gewinnen, sie missionieren. Und gleichzeitig glaubte er, dass, wer innerlich durch den Glauben gefestigt ist, auch eine Festigung für die verschiedenen Versuchungen des Lebens besitzt. Der religiöse und der sittliche Aspekt, der fällt in diesem Begriff "retten" zusammen.

Die Strafgefangenen retten, sie herausholen aus ihren prekären Lebensverhältnissen und sie innerlich festigen für die Gefährdungen des Lebens, das passt an der Stelle zusammen. Dabei sollte der Gemeinschaft der Unsittlichen, der Verbrecher, in Gestalt der Aufseher eine Gruppe von sittlich Gefestigten gegenübertreten. Im Dialog zwischen Aufseher und dem Häftling lag der Beginn der Resozialisierung. Die Einzelhaft passt zu seinem Engagement für den Einzelnen. Die Einzelhaft garantierte eben eine Konzentration auf das Individuum und seine Rettung. Das wiederum passt zur Arbeit im Rauhen Haus.

NDR.de: Was ist aus der Institution der "Brüder" von damals geworden?

Dietrich Sattler: Wir haben 250 Studenten und sind Hamburgs kleinste Hochschule. Sie ist eine unter vielen Ausbildungsstätten für Sozialpädagogen, aber sie ist insofern eine ganz besondere, als das Curriculum aus sozialwissenschaftlichen Fächern und aus diakonischen, theologischen besteht. Kontinuierlich machen rund 30 Prozent der Studierenden Gebrauch von einem zusätzlichen kirchlichen Abschluss.

Diejenigen, die den Diakonabschluss machen, treten der Brüder- und Schwesterschaft des Rauhen Hauses bei, die die Tradition dieser Brüderschaft, die Wichern ins Leben gerufen hat, fortsetzt. Sie hat heute etwa 700 Mitglieder. Die Diakone und Diakoninnen des Rauhen Hauses sind überall tätig, wo Sozialpädagogen gebraucht werden. Das ist ganz im Sinne von Wichern. Er sah deren Betätigungsfeld erst einmal in der gesamten Gesellschaft und nicht einzig und allein in der Kirche.

NDR.de: Ist Wichern ein Vorbild?

Dietrich Sattler: Ja, natürlich ist eine Gestalt der Geschichte, die etwas nachhaltig bewirkt hat, immer so etwas wie ein Vorbild. Aber Wichern eins zu eins nachzumachen, das würde uns Heutigen nicht gelingen. Was ich persönlich an ihm ganz beeindruckend finde, ist seine unglaubliche Begabung der Kommunikation. Er war ein außerordentlicher Netzwerkarbeiter. Er konnte Leute für seine Ideen begeistern und gewinnen. Sie zur Mitarbeit oder zur Eigeninitative zu motivieren, das muss er meisterhaft beherrscht haben, sonst wäre das viele, das er angestoßen und auch organsiert hat, nicht zustande gekommen.

NDR.de: Gab es eine Heldenverehrung Wicherns?

Dietrich Sattler: Durchaus. Wenn man mal Veröffentlichungen der vergangenen Jahrhunderte nachliest, wurde er in Kreisen der Inneren Mission und der Diakonie doch sehr bald auf ein Podest gesetzt. Wir Heutigen haben einen gelasseneren Blick auf solche Figuren. Im Abgleich zu den damaligen Verhältnissen entdeckt man die tatsächlichen Leistungen. Was Wichern aus heutiger Sicht nicht gesehen hatte, waren die wirklichen politischen Ursachen für die Arbeiterunruhen und die Tendenz im 19. Jahrhundert zur Demokratisierung der Gesellschaft. Dafür kann man ihn kritisieren, aber was hilft es. Da sind wir aus der Rückschau klüger.

Ein gelassener Blick kann ihn auch viel besser zum Vorbild werden lassen, als wenn er auf einem Heiligenpodest stünde. Aus meiner Sicht ist Wichern das, was man in der Kirche einen Kirchenvater nennen kann. Einer, der für eine Idee oder Entwicklung steht und auch dadurch nicht an Bedeutung verliert, dass wir uns zeitlich und geschichtlich von ihm entfernen.

Dieses Thema im Programm:

Hamburg Journal | 20.04.2008 | 19:30 Uhr

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