April 1945: Todesmärsche durch Ostholstein
Kurz vor Kriegsende sterben Hunderttausende KZ-Häftlinge auf Todesmärschen. Hans-Otto Mutschler ist zehn Jahre alt, als einer der Gefangenen bei Ahrensbök vor seinen Augen erschossen wird.
Sie zählen zu den vielen schrecklichen Verbrechen der Hitler-Zeit: die Todesmärsche der KZ-Häftlinge kreuz und quer durch Mitteleuropa. Eine Reihe dieser Todesmärsche endete in Neustadt in Holstein. Auf ihrem Weg dorthin kamen am 12. April 1945 auch 500 Gefangene durch Lübeck. Auf einer Wiese am verkehrsreichen Burgtor erinnert eine Stele an sie. Am oberen Ende ist ein Totenkopf hineingearbeitet. "Es ist ein wichtiger Platz für die Stele, trotz des Verkehrslärms", sagt Ingaburgh Klatt, die Leiterin der Gedenkstätte in Ahrensbök dem NDR im Jahr 2015*. "Hier am Elbe-Lübeck-Kanal sind die Häftlinge auf den Schuten vorbeigekommen, am Vorwerker Hafen ausgeladen worden und dann auf den Todesmarsch nach Ahrensbök und später nach Neustadt geschickt worden."
Auf dem Weg erfroren, verhungert oder ermordet
Begonnen hat ihr Todesmarsch im Januar 1945 im Konzentrationslager Auschwitz: 1.000 Häftlinge mussten sich bei Schnee, Eis und Sturm auf den Weg machen. Das Kommando über sie hatte ein Ostholsteiner Bauernsohn: Max Schmidt aus Neuglasau. Er war Lagerkommandant in einem Auschwitz-Nebenlager.
Drei Monate später, als die Schuten in Lübeck anlegten, waren 800 der jüdischen Gefangenen tot: erfroren, verhungert, zu Tode gequält und erschossen. Die Überlebenden wurden Richtung Ostholstein getrieben - so kamen sie auch durch Dunkelsdorf nahe Ahrensbök. Hans-Otto Mutschler hat sie dort als zehnjähriges Kind gesehen. "Das waren Elendsgestalten, das konnten wir auch als Kinder beurteilen. Es wurde geschrien 'Voran, voran und schnell und schneller'. Das ist - wie soll ich sagen - nicht so einfach darzustellen, wie das alles so ablief", erzählt er 2015 sichtlich berührt.
Vor den Augen der Dorfbewohner erschossen
Die etwa 500 KZ-Häftlinge, die an ihm vorbeizogen, stammten aus ganz Europa, es waren Juden und Widerstandskämpfer, die sich im Konzentrationslager Mittelbau-Dora im Harz dem Todesmarsch anschließen mussten. Das, was Hans-Otto Mutschler damals beobachtet, mussten sie tausendfach erleiden: "Wir Kinder standen mit dem Vorarbeiter des Gutes dort, er war gehbehindert und hatte so einen Krückstock. Einer der KZ-Häftlinge ging aus der Reihe raus und sagte zu dem Vorarbeiter: 'So einen Krückstock, den hätte ich auch gern'. Das kriegte einer von den Bewachern mit und ging auf den Häftling zu und sagte: 'So einen Krückstock kann ich dir sofort verpassen'. Dann hat er ihm seine Pistole an die Stirn gesetzt und ihn erschossen." Mithäftlinge wurden angewiesen, den Toten in den Straßengraben zu werfen.
Ein Trauma für die Menschen in Ostholstein
Mutschler haben diese Erinnerungen nicht losgelassen. Jahrzehnte später arbeitete er daran mit, den vielen Toten und den ganz wenigen Überlebenden des Todesmarsches durch Ostholstein eine Gedenkstätte in Ahrensbök einzurichten. "Das hat mich immer begleitet, weil ich später ja auch miterlebt habe, wie die 'Cap Arcona' gekentert auf der Ostsee geschwommen ist. Noch Jahre danach wurden Leichen angeschwemmt, wenn man am Strand war."
"Das war ein Trauma für alle, die rund um die Lübecker Bucht aufgewachsen sind", ergänzt Ingaburgh Klatt von der Gedenkstätte. Kaum einer der 500 Häftlinge, die an Hans-Otto Mutschler vorbeigetrieben wurden, überlebte. Die meisten ertranken bei der Schiffskatastrophe der "Cap Arcona" am 3. Mai 1945 - nur wenige Tage vor der Kapitulation Hitler-Deutschlands.
* Die Urfassung dieses Beitrags wurde bereits 2015 veröffentlicht, an einigen Stellen wurde er aktualisiert.
