Links ein Foto von Heinz-Friedrich Harre und Reinhard Lüschow vor dem Standesamt Hannover 2001 und rechts daneben ein Bild zehn Jahre später im Wohnzimmer der beiden. © dpa-Bildfunk Foto: Julian Stratenschulte

"Homo-Ehe": Heirate mich - zumindest ein bisschen

Stand: 02.08.2021 00:01 Uhr

Als bundesweit erstes schwules Paar besiegeln Heinz-Friedrich Harre und Reinhard Lüschow am 1. August 2001 im Standesamt Hannover den eheähnlichen Bund. Möglich macht es das Lebenspartnerschaftsgesetz. Ein Etappensieg auf dem Weg zur "Ehe für alle".

von Yasmin Sibus

Durch die Fenster des Alten Rathauses in der Innenstadt von Hannover dringen an jenem Mittwoch um 8.20 Uhr aufgeregte, fröhliche Stimmen. Korken knallen aus Sektflaschen. In einem der Trauzimmer erfüllen sich zwei Männer einen Herzenswunsch. Heinz-Friedrich Harre und Reinhard Lüschow "heiraten", zumindest ein bisschen. Durch das seit Mitternacht geltende Lebenspartnerschaftsgesetz können sie ihre Liebe erstmals amtlich machen. Die meisten nennen die Verbindung "Homo-Ehe", einige "kleine Ehe" oder "Verpartnerung", offiziell heißt der Bund eingetragene Partnerschaft.

Vorreiter*innen werden Teil deutsch-queerer Geschichte

Gudrun Pannier (l) und Angelika Baldow verlassen am 1. August 2001 ein Standesamt in Berlin, in dem sie ihre Lebenspartnerschaft haben eintragen lassen. © dpa/dpaweb Foto: Wolfgang Kumm
In Berlin machen Gudrun Pannier und Angelika Baldow als erstes Frau-Frau-Paar am 1. August 2001 ihre Partnerschaft amtlich.

Als der 48-jährige Harre und der 40-jährige Lüschow das Standesamt verlassen, treten sie nach der schweren zweiflügeligen Holztür durch einen Regenbogen aus bunten Luftballons. Ihren Weg säumen männliche Cheerleader mit orange-violetten Pompons in den Händen, dahinter warten Kameraleute und Fotografen auf das Paar. Freunde, Familie und Neugierige jubeln den beiden zu. Harre und Lüschow werden an diesem Morgen des 1. August 2001 Teil deutscher - und insbesondere queerer - Geschichte. Sie sind an diesem Tag das erste männliche Paar, das sich traut.

Nur wenig später, um 9 Uhr, geben sich in Berlin als erstes weibliches Paar Gudrun Pannier und Angelika Baldow das Jawort. Wie viele homosexuelle Verliebte sich an diesem Tag "verpartnern", ist nicht zentral erfasst. Die "taz" berichtet von rund 100 lesbischen und schwulen Paaren.

Gemeinsamer Kampf für gleiche Rechte wie Heterosexuelle

Heinz-Friedrich Harre und Reinhard Lüschow haben bis zur "kleinen Ehe" bereits viele Jahre darum gekämpft, dass ihre sexuelle Orientierung und ihre Beziehung gesehen und anerkannt werden. Seit Ende der 1980er-Jahre sind sie ein Paar, seit 1991 leben sie zusammen. Immer mehr wird dem Verwaltungsmitarbeiter Harre und dem Finanzbeamten Lüschow klar, dass sie als gleichgeschlechtliches Paar gegenüber verheirateten heterosexuellen Paaren viele Nachteile haben. Sie haben unter anderem kein Auskunfts- und Besuchsrecht im Krankenhaus und massive steuerliche Nachteile. Das wollen die beiden Männer nicht hinnehmen und engagieren sich unter anderem in der Bundesarbeitsgemeinschaft Schwule und Lesbische Paare. Außerdem beteiligen sie sich an medienwirksamen Aktionen und scheuen keine gerichtlichen Auseinandersetzungen, um auf die Diskriminierung ihrer und anderer nicht heterosexueller Beziehungen hinzuweisen.

Strafbare Homosexualität: Paragraf 175 besteht bis 1994

Als die beiden geboren werden, ist Homosexualität sowohl in West- als auch in Ostdeutschland strafbar. Der aus der Kaiserzeit stammende Paragraf 175 wird in der Bundesrepublik erst 1969 entschärft, das Pendant in der Deutschen Demokratischen Republik ein Jahr zuvor. Gestrichen wird er erst nach der Wiedervereinigung im Jahr 1994.

Zwei Männer halten Händchen. © dpa - picture alliance Foto: Herbert Neubauer
AUDIO: 1994: Homosexualität ist kein Verbrechen mehr (15 Min)

Gleichberechtigt sind nicht heterosexuelle Menschen damit noch lange nicht. Zwei Männer oder Frauen, die womöglich seit Jahrzehnten in einer Beziehung und einer gemeinsamen Wohnung leben, haben im Todesfall keinerlei Ansprüche - weder bei der Bestattung noch beim Erbe. Die Liste der Ungleichheiten lässt sich lange fortführen. Manche Homosexuelle adoptieren deshalb ihre Partnerinnen beziehungsweise Partner, um ein Stück Sicherheit bieten zu können.

Der Paragraf 175

Dänemark öffnet sich als erstes Land

Während der 1980er-Jahre wird die Kritik gegen die Diskriminierung gleichgeschlechtlicher Paare lauter. Als Dänemark 1989 als erstes Land weltweit die eingetragene Lebenspartnerschaft einführt, fordert ein Jahr später auch der damalige Schwulenverband in Deutschland (SVD) - heute der Lesben- und Schwulenverband Deutschland - das Recht auf eine sogenannte Zivilehe ein. Zusammen mit der Bundesarbeitsgemeinschaft Schwule Juristen (BASJ) entwickelt der Verein einen Gesetzentwurf. Doch bei Weitem nicht alle Homosexuellen stehen dahinter. In den Augen der Kritiker ist die Ehe ein veraltetes und idealisiertes Konzept, das abgeschafft gehört. Dass Menschen genau dies für sich einfordern, ist für sie unvorstellbar.

"Aktion Standesamt": 250 Paare bestellen das Aufgebot

Der SVD untermauert am 19. August 1992 mit der "Aktion Standesamt" seine Forderung. An diesem Tag bestellen rund 250 homosexuelle Paare in ihren örtlichen Standesämtern das Aufgebot - unter ihnen sind auch Harre und Lüschow aus Hannover. Das prominenteste - inzwischen getrennte - Paar der Aktion sind die Komikerin Hella von Sinnen und die Autorin Cornelia Scheel. Gemeinsames Ziel ist es, nach der absehbaren Ablehnung der Behörden eine Zustimmung zu erstreiten - gegebenenfalls vor dem Bundesverfassungsgericht (BVerfG). Die Resonanz der Medien ist groß. Lokale und überregionale Blätter wie das Nachrichtenmagazin "Der Spiegel" und die Tageszeitung "taz" berichten darüber. Letztere titelt tags darauf: "Homos stürmen die Standesämter" - und zeigt ein Foto von Harre und Lüschow.

Verfassungsrichter lehnen Klagen ab, lassen Tür aber offen

Das Paar klagt wie viele andere gegen die erwartete Ablehnung durch das Standesamt. Alle scheitern sie vor Gericht - die einen in erster, die nächsten in zweiter oder spätestens in letzter Instanz. Das Bundesverfassungsgericht argumentiert in seinem Urteil am 4. Oktober 1993, dass die Ehe im verfassungsrechtlichen Sinne eine Lebensgemeinschaft zwischen Mann und Frau sei. Um das zu ändern, müsste es "hinreichende Anhaltspunkte für einen grundlegenden Wandel des Eheverständnisses in dem Sinne [geben], dass der Geschlechtsverschiedenheit keine prägende Bedeutung mehr zukäme". Darin sieht der SVD eine Chance. Er hat nun ein klares Ziel: diesen Wandel aktiv herbeizuführen.

Grüne treiben Gesetzgebung voran

Politisch erleben nicht heterosexuelle Paare die meiste Unterstützung durch die 1980 gegründeten Grünen. Besonders der von vornherein offen schwul lebende Volker Beck engagiert sich unter anderem als Schwulenreferent der Bundestagsfraktion und später als Abgeordneter für ein ein Ende der Diskriminierung. Er arbeitet an Gesetzesvorlagen zur Zivilehe gleichgeschlechtlicher Paare mit und treibt das Thema mit seiner Fraktion weiter voran. Die bringt im November 2000 in der ersten rot-grünen Bundesregierung das Lebenspartnerschaftsgesetz, kurz LPartG, zur Abstimmung. Einen Teil kann die Koalition durchsetzen, Anpassungen etwa im Steuerrecht scheitern am Widerstand der CDU. Am 16. Februar 2001 unterzeichnet Bundespräsident Johannes Rau das Gesetz.

CDU-geführte Länder wollen LPartG per Eilantrag stoppen

Noch wenige Tage vor Inkrafttreten im August stehen die geplanten Termine in den Standesämtern - auch der von Harre und Lüschow - auf der Kippe. Grund ist ein Eilantrag der unionsgeführten Bundesländer Bayern und Sachsen gegen das neue Gesetz. Nach Ansicht der Landesregierungen darf es keine der Ehe ähnliche Rechtsform geben. Das Bundesverfassungsgericht schmettert die Klage ab - mit 5:3 Stimmen. Die Lebenspartnerschaft sei "also etwas anderes als die Ehe und deshalb keine Gefahr für selbige." Zudem sei es "verfassungsrechtlich auch nicht begründbar, aus dem besonderen Schutz der Ehe abzuleiten, dass solche anderen Lebensgemeinschaften im Abstand zur Ehe auszugestalten und mit geringeren Rechten zu versehen sind."

Eingetragene Partnerschaft: Harre und Lüschow wollen mehr

Das Paar Reinhard Lüschow (l.) und Heinz-Friedrich Harre am Tag ihrer Hochzeit mit Blumen und anderen Personen. © NDR
Schon im August 2001 wissen Heinz-Friedrich Harre und Reinhard Lüschow, dass die standesamtlich beglaubigte Partnerschaft nur "ein erster Schritt" ist - und wollen für mehr kämpfen.

Als Heinz-Friedrich Harre und Reinhard Lüschow wie geplant am Morgen des 1. August das Trauzimmer verlassen, strahlen sie. "Ein wunderschönes Gefühl", antwortet Harre auf die Frage, wie es ihm geht. So sehr die beiden diesen Moment genießen, so sehr steht für sie aber auch fest: "Für uns nur ein erster Schritt", sagt Lüschow. Ihr Ziel bleibt die Öffnung der Zivilehe - und die Gleichberechtigung. Denn aus Sicht der Betroffenen ist das Lebenspartnerschaftsgesetz allenfalls ein Zugeständnis: Homosexuelle Paare können einander mit ihrem Jawort nun zu Unterhalt verpflichten, einen gemeinsamen Familiennamen führen und Zugewinngemeinschaften bilden. Steuerlich gelten sie jedoch weiterhin als alleinstehend, gemeinsam Kinder adoptieren dürfen sie ebenfalls nicht.

BVerfG sieht Partnerschaft und Ehe 2009 als gleichberechtigt

In den folgenden Jahren wird das Lebenspartnerschaftsgesetz mehrfach novelliert. Paare klagen gegen einzelne diskriminierende Aspekte, die das Bundesverfassungsgericht alle nicht zulässt. 2009 kommt die Wende: Bis dato hat das Gericht seine Entscheidungen auf Basis der Verschiedenheit von Ehe und Lebenspartnerschaft begründet. Nun stellt es in einer Entscheidung vom 7. Juli jedoch fest, dass beide "auf Dauer angelegte verfestigte Formen der Partnerschaft" seien. Die Gleichbehandlung beider ist fortan nicht nur erlaubt, sondern geboten. Homosexuelle, die in einer eingetragenen Partnerschaft leben, sind in ihren Rechten den Eheleuten gleichzustellen.

Die Gewissensfrage: Bundestag stimmt "Ehe für alle" 2017 zu

Mit Konfetti bejubeln Grünen-Fraktionsmitglieder um Volker Beck am 30. Juni 2017 im Bundestag das Abstimmungsergebnis zur "Ehe für alle". © Wolfgang Kumm/dpa Foto: Wolfgang Kumm
Vorkämpfer der "Ehe für alle": Der Grünen-Abgeordnete Volker Beck (Mitte) feiert mit Fraktionskolleginnen und -kollegen das Abstimmungsergebnis. Bald darauf heiratet er seinen Freund.

2017 wird das Jahr, in dem innerhalb weniger Tage das möglich wird, was zuvor seit jeher undenkbar schien. Die "Ehe für alle" wird in ein Gesetz gegossen. Mit Blick auf die Bundestagswahl machen SPD, Grüne und FDP die Öffnung der Ehe zur Bedingung für potenzielle Koalitionspartner. Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) erklärt daraufhin Ende Juni eine Abstimmung über die gleichgeschlechtliche Ehe zur Gewissensfrage - und entbindet die Abgeordneten damit vom Fraktionszwang. Sie müssen nicht nach Parteilinie, sondern dürfen frei entscheiden. Mit 393 Ja- zu 226 Nein-Stimmen, vier Enthaltungen und sieben wegen Abwesenheit nicht abgegebenen Stimmen erreicht das Gesetz am 30. Juni die erforderliche Mehrheit. Im Bundestag fliegt auf den Plätzen der Grünen-Fraktion buntes Konfetti über Vorkämpfer Volker Beck. Nach fast 30 Jahren erreicht er am seinem letzten Tag im Parlament sein wichtigstes Ziel. Für ihn bedeutet es "ein Stück weit gesellschaftlichen Frieden", wie er nach der Sitzung im Gespräch mit dem Fernsehsender phoenix sagt.

Lüschow: "Jetzt sind wir endlich gleichgestellt"

Heinz-Friedrich Harre und Reinhard Lüschow lassen sich am 1. Oktober 2017 nach ihrer Hochzeit im Alten Rathaus in Hannover von Medienvertretern fotografieren. © Philipp von Ditfurth/dpa Foto: Philipp von Ditfurth
Am 1. Oktober 2017 geben sich Harre und Lüschow im Standesamt Hannover erneut das Jawort, diesmal als Ehepartner.

Für den inzwischen 64-jährigen Harre und den 57 Jahre alten Lüschow wird der Traum endlich wahr. Und so wollen sie auch mit die ersten sein, die ihre Lebenspartnerschaft in eine Ehe umtragen lassen. Wieder ergattern sie einen der ersten Termine im Standesamt und heiraten am 1. Oktober 2017. "Jetzt sind wir endlich gleichgestellt und nicht mehr ein Paar zweiter Klasse", sagt Lüschow. "Wir sind sehr glücklich". Der schwer kranke Harre bedankt sich bei seinen Ärzten und Pflegern, dass sie ihn so lange fit gehalten haben: "Dass ich das erleben kann!" Vier Wochen nach der Hochzeit - und Flitterwochen auf Norderney - stirbt Heinz-Friedrich Harre friedlich zu Hause bei seiner großen Liebe.

Offene Forderungen zur "Ehe für alle"

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Dieses Thema im Programm:

NDR 1 Niedersachsen | Hellwach | 10.11.2020 | 05:40 Uhr

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