Stand: 16.03.2010 19:01 Uhr

"Die Schwierigkeiten des Systemwechsels waren gewaltig!"

Warum die politischen Parteien der "Allianz für Deutschland" bei der Volkskammerwahl 1990 die meisten Wähler für sich gewinnen konnten, analysiert Prof. Dr. Manfred Görtemaker von der Universität Potsdam. Mit NDR.de hat mit dem Historiker darüber gesprochen, wie die Ostdeutschen den Systemwechsel durch ihre Wahl einforderten.

NDR.de: Warum ist der Wahlausgang so ganz anders gewesen, als es die Demoskopen vorhergesagt haben? Der SPD wurde lange eine Mehrheit prognostiziert.

Prof. Dr. Manfred Görtemaker © Manfred Görtemaker
Prof. Dr. Manfred Görtemaker hält die Wahlkampfauftritte von Helmut Kohl für entscheidend für das Ergebnis der Volkskammerwahl 1990.

Manfred Görtemaker: Der Wahlausgang wurde entscheidend von der Frage bestimmt, welche politische Kraft eine rasche Wiedervereinigung versprach. Aus den Reihen der SPD gab es in den Wochen vor der Wahl zunehmend Stimmen - vor allem von Oskar Lafontaine, aber auch von Hans-Jochen Vogel -, die erkennen ließen, dass führende Sozialdemokraten der Wiedervereinigung skeptisch gegenüberstanden, sie zumindest auf die lange Bank schieben wollten. Die große Mehrheit der DDR-Bevölkerung aber wünschte einen raschen Zusammenschluss mit der Bundesrepublik. Zum anderen versprach Bundeskanzler Helmut Kohl unmittelbar vor der Wahl einen Umtausch der ostdeutschen Mark in D-Mark im Verhältnis 1:1. Die Ost-CDU, die bis dahin in den Umfragen sehr schlecht ausgesehen hatte, erhielt dadurch enormen Auftrieb - und gewann, für viele überraschend, die Wahl.   

NDR.de: Wie konnten die Kräfte um das Neue Forum herum so schnell in der Bedeutungslosigkeit verschwinden? 

Görtemaker: Die Bürgerbewegungen verfolgten überwiegend das Ziel, die DDR zu reformieren, um einen "Sozialismus mit menschlichem Antlitz" zu verwirklichen. Sie wünschten aber keine Verschmelzung mit der "kapitalistischen BRD". Das war für die Wähler alles andere als attraktiv. Hier zeigte sich nicht zuletzt eine gewisse politische Naivität der Bürgerbewegungen - sympathisch, aber taktisch unklug. Die Bürgerbewegungen folgten ihren Überzeugungen. Aber eine reformierte DDR, der Erhalt des Sozialismus, war nicht das, wonach der Mehrheit der Ostdeutschen damals der Sinn stand.

NDR.de: "Wir sind nicht der kleine Michel", hatte Werner Schulz vom Neuen Forum seine Angst vor einer Vereinnahmung der DDR durch die Bundesrepublik formuliert. Heute ist es aber genau das beherrschende Gefühl vieler DDR-Bürger. Kam die Wiedervereinigung zu schnell?

Görtemaker: Nein, sie kam nicht zu schnell, denn sie war angesichts offener Grenzen unvermeidlich. Die DDR hatte keine Chance, unter freiheitlichen Bedingungen ökonomisch und politisch längere Zeit zu überleben. Das hatte DDR-Ministerpräsident Hans Modrow bereits Anfang Februar 1990 sehr klar erkannt, als er auf eine rasche Währungsunion drängte und sogar den Wahltermin für die Volkskammerwahl von Mai 1990 auf März vorverlegte, weil er befürchtete, die DDR werde den Mai-Termin gar nicht mehr erleben. Natürlich ist das Gefühl vieler Ostdeutscher heute anders. Die Schwierigkeiten des Systemwechsels waren gewaltig. Aber es gab keine Alternative. Ostdeutschland wäre längst entvölkert, wenn man versucht hätte, die DDR künstlich am Leben zu erhalten. Selbst unter den Bedingungen der Wiedervereinigung haben ja etwa vier Millionen Ostdeutsche ihre Heimat verlassen und sind in den Westen gegangen. Und diese Zahl wäre - bei offenen Grenzen - noch viel höher gewesen, wenn es die Wiedervereinigung nicht gegeben hätte.

NDR.de: Die siegreiche Allianz für Deutschland war doch eigentlich ein ziemlich unübersichtlicher Zusammenschluss an Parteien mit vielen unbekannten Protagonisten. Trotzdem genoss die Partei das Vertrauen der Wähler. 

Görtemaker: Das hat ausschließlich mit Bundeskanzler Kohl zu tun. Kohl versprach nicht nur einen Umtausch der ostdeutschen Mark im Verhältnis 1:1, sondern er genoss auch das Vertrauen der Ostdeutschen - jedenfalls der großen Mehrheit derjenigen, die für die Allianz für Deutschland votierten. Er schien als einziger in der Lage zu sein, die Wiedervereinigung in überschaubarer Zeit zu erreichen.     

NDR.de: Wären die Wahlen wie ursprünglich geplant im Mai abgehalten worden - wäre die Situation völlig anders gewesen?

Görtemaker: Nein, ich glaube, dass das Ergebnis ähnlich gewesen wäre. Vielleicht wäre der Sieg der Allianz für Deutschland sogar noch höher ausgefallen, weil sie mehr Zeit gehabt hätte, ihre Politik dem DDR-Publikum zu vermitteln. Aber das ist reine Spekulation. 

NDR.de: Welchen Einfluss hatten die Westpolitiker, die im Wahlkampf in den Osten reisten? 

Görtemaker: Zunächst waren es vor allem SPD-Politiker, die im Osten die neu gegründete SPD in der DDR unterstützten. Die FDP und vor allem die CDU zögerten lange, ehe sie sich im Osten engagierten. Die Wahlauftritte von Kohl in mehreren ostdeutschen Städten waren jedoch wahlentscheidend.

Das Gespräch führte Viktoria Urmersbach.

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