Eine Straßenbarrikade aus großen Holzteilen in Hamburg-Barmbek im Oktober 1923. © Staatsarchiv Hamburg Foto: Otto Reich

Barrikaden, Kugelfeuer und Weltrevolution: Der "Hamburger Aufstand"

Stand: 23.10.2023 05:00 Uhr

Am 23. Oktober 1923 versuchen KPD-Anhänger von Hamburg aus, die Weimarer Republik zu stürzen. Sie stürmen Polizeiwachen, bauen Barrikaden und liefern sich Gefechte mit der Polizei. Nach zwei Tagen endet der Putschversuch.

von Yasmin Sibus

"Wir stürmten beide in die Marktwache hinein und der Genosse vorne mit erhobenem Revolver und ich - hier mit dieser Pfeife - hinter ihm, hielt die ihm über die Schulter mit der Richtung auf die schlafenden oder ruhenden Polizisten, die auf ihren Pritschen lagen … da bin ich hingegangen und habe die Revolver aus den Gürteln herausgezogen und die Polizisten haben sich auch stillschweigend ergeben." Helden-Geschichten wie diese um eine Tabakpfeife werden nach dem "Hamburger Aufstand" im Herbst 1923 häufiger erzählt - zunächst in radikalen Kreisen der Kommunistischen Partei Deutschlands (KPD), später in der DDR. Die Pfeifen-Anekdote schildert ein "Genosse Fiedler" 1954 im "Rundfunk der DDR".

Ob seine Geschichte stimmt, ist unklar - wie so vieles, was die Ereignisse am 23. und 24. Oktober 1923 in der Hansestadt betrifft. Unterlagen werden von den Kommunisten vernichtet, damit sie nicht in die Hände der Gegner fallen können. Und auch unter den Genossen weicht so mancher Fakt schnell der Fiktion, um einen offenbar dilettantischen Putschversuch wie eine gescheiterte Revolution aussehen zu lassen. Sicher ist: Am Ende sind mehr als 100 Menschen tot und viele weitere verwundet. Historiker ordnen die beiden Tage im Herbst 1923 als blutigsten Aufstand der Hamburger Geschichte ein.

Aufständische stürmen Polizeiwachen, um an Waffen zu kommen

In den frühen Morgenstunden des 23. Oktober stürmen vermutlich 300 militante Anhänger der KPD 26 Polizeiwachen in Hamburg, Altona und dem Kreis Stormarn in der preußischen Provinz Schleswig-Holstein. Sie wollen die Waffen der Beamten, denn sie selbst haben zu wenige. In neun Polizeiwachen scheitern die Aufständischen, in 17 Stationen nehmen sie Pistolen und Gewehre mit und verschanzen sich auf den Dächern umliegender Häuser. Von ihrer Position in den Außenbezirken aus wollen sie immer weiter in die Stadt vordringen und die Bürgerschaft entmachten. Ihr Ziel ist ein Systemsturz nach Vorbild der Oktoberrevolution 1917 in Russland und letztlich: die kommunistische Weltrevolution.

Sowjetunion will fragile Demokratie und Frust nutzen

Menschen umlagern im Sommer 1923 in Berlin einen Kartoffelhändler, der seine Ware vom Pferdewagen aus unter Polizeischutz verkauft. © picture-alliance / akg-images | akg-images
Viele Menschen sind so verzweifelt vor Armut und Hunger, dass - wie hier im Sommer 1923 in Berlin - Lebensmittel teils unter Polizeischutz verkauft werden.

Im Jahr 1923 sehen die Sowjetunion und der von dort gesteuerte Parteienzusammenschluss "Kommunistische Internationale" (Komintern) Chancen für den Umsturz in Deutschland. Die Weimarer Republik ist jung und hat viele Gegner. Linke und rechte Extremisten halten nichts von der parlamentarischen Demokratie. Gleichzeitig sorgt eine Hyperinflation dafür, dass das Geld so rasant an Wert verliert, dass sich insbesondere Arbeiter und ihre Familien nicht einmal mehr Brot leisten können. Die Spannungen entladen sich in Unruhen, Gewerkschaften und Arbeiterparteien versuchen mit Streiks Druck auf die Arbeitgeber zu machen. In diesem Szenario bereitet ab September eine russische Kommission, zu der Josef Stalin und Leo Trotzki gehören, mit der KPD einen "deutschen Oktober" vor. Sowjetische Generäle reisen nach Deutschland, um mit KPD-Funktionären die taktische Lage zu analysieren. Zunächst setzen sie für November einen Generalstreik als Signal für die Revolution an.

Die Zeit drängt - doch den Radikalen fehlt der Rückhalt

Doch dann verändert sich die Lage. Die neue Reichsregierung unter Gustav Stresemann will unter anderem die Mark mithilfe einer Rentenmarktverordnung stabilisieren. Zudem schickt sie am 20. Oktober im Streit um die sogenannten Proletarischen Hundertschaften Truppen nach Sachsen, um dort die neue SPD-KPD Regierung abzusetzen. Die Hundertschaften sind eine überwiegend KPD-geführte paramilitärische Bewegung, mit deren Hilfe revolutionäre Ziele durchgesetzt werden sollen. Tags darauf fordert der KPD-Vorsitzende Heinrich Brandler auf einer Arbeiterkonferenz in Chemnitz, sofort einen Generalstreik auszurufen. Doch er scheitert am Widerstand der Sozialdemokraten, der Gewerkschafter - und der Kommunisten. Am selben Abend begräbt die KPD-Führung deshalb ihre Umsturzpläne. Die Revolution wird nach wochenlangen Vorbereitungen abgesagt.

Aufstand im Alleingang: KPD-Funktionäre mobilisieren Anhänger

Kasernierte Schutzpolizei hält vermutlich am 25. Oktober Wache an einer Straßenbarrikade in Hamburg. © gemeinfrei Foto: Agence Rol
Unruhen und Aufstände sind seinerzeit für die Polizei beinahe Routine. An einer Barrikade in Hamburg kontrollieren Beamte mehrere Männer - das Bild ist vermutlich vom 25. Oktober 1923.

Warum Teile der Hamburger KPD trotzdem putschen, ist nicht geklärt, sagt der Historiker Ortwin Pelc. Ältere Thesen, denen zufolge Kuriere, die den Beginn des Generalstreiks ankündigen sollen, nicht mehr zurückgerufen werden können, halten Forschende inzwischen für unwahrscheinlich. Wahrscheinlicher ist Pelc zufolge, dass der linksradikale KPD-Flügel in Hamburg unter Ernst Thälmann und Hans Kippenberger an den Erfolg glaubt - und mit einem Zündfunken weitere Aktionen in ganz Deutschland auslösen will. Ebenso könnten sie vorhaben, die KPD-Führung so zu weiteren Aufständen zu zwingen. Organisiert wird der Aufstand in Hamburg vom politischen Leiter des Bezirks "Wasserkante", Hugo Urbahns, und Hans Kippenberger als militärischem Kopf. Der kriegserfahrene Kippenberger schult seit einigen Wochen proletarische Hundertschaften. Wie viele der rund 18.000 Hamburger Parteimitglieder dazu gehören, ist nicht klar. Die Angaben variieren von 900 bis zu 1.300 Arbeitern. Die Entscheidung für den Aufstand fällt am Abend des 22. Oktober in geheimen Sitzungen, wie Kippenberger später berichtet. Er gehört zusammen mit dem ebenfalls involvierten Ortsgruppen-Vorsitzenden Ernst Thälmann zu den radikalen Funktionären in der Partei, Urbahns zu den gemäßigten.

In Barmbek bauen Bewohner mit den Aufständischen Barrikaden

Hamburger Polizei, Reichswehr und ein Panzerwagen an einer Straße in Hamburg-Barmbek nach dem Hamburger Aufstand im Oktober 1923. © Staatsarchiv Hamburg Foto: unbekannt
Die Hamburger Polizei ist während des Aufstands mit rund 1.500 Kräften und sechs Panzerwagen im Einsatz.

In den meisten Stadtteilen übernimmt die Polizei bereits am 23. Oktober innerhalb von Stunden wieder die Kontrolle. In Barmbek, Eilbek und Hamm kämpfen Aufständische und Polizeibeamte noch bis Einbruch der Dunkelheit. Die bewaffneten Arbeiter schießen aus Häusern und von Dächern und verbarrikadieren sich hinter gestapelten Bäumen, Bauwagen-Teilen und Pflastersteinen. Die Stadt setzt insgesamt rund 1.500 Polizisten und sechs Panzerwagen ein, um die Blockaden zu durchbrechen. Besonders im Arbeiterviertel Barmbek unterstützen die Bewohnerinnen und Bewohner die Aufständischen mit Essen und Hilfe beim Barrikadenbau. Letztere ziehen sich jedoch immer weiter ins nördliche Barmbek in Richtung U-Bahn zwischen den Stationen Habichtstraße und Wandsbek-Gartenstadt sowie Hellbrook und Bramfeld zurück.

In der "Sowjetrepublik Stormarn" verkünden Flugblätter den Sieg

Als die Polizei in Hamburg die Kontrolle zurückerlangt hat, rückt sie nach Schiffbek im Kreis Stormarn (heute Hamburg-Billstedt) aus. In dem Industriearbeiterort haben Aufständische Polizei, Gemeindeverwaltung und Postamt besetzt - und die "Sowjetrepublik Stormarn" ausgerufen. Und noch mehr: "In ganz Deutschland ist die Arbeiterschaft in den Kampf um die Macht eingetreten. In großen Teilen Deutschlands ist die Macht in den Händen der Arbeiter", steht auf einem Flugblatt der KPD, das sie am 23. Oktober in Schiffbek verteilt. Mithilfe eines Landungskommandos des Kreuzers "Hamburg", vier Panzerwagen und eines Aufklärungsflugzeugs überwältigt die Polizei die Aufständischen in Schiffbek und schließlich in Bergedorf. Vielerorts in Hamburg dürften die Menschen von den Ereignissen kaum etwas mitbekommen haben, sagt Pelc. Ohnehin seien Unruhen und Plünderungen zu der Zeit üblich gewesen.

Bürgerschaft hält kurz nach Aufstand reguläre Sitzung ab

Hamburger Sicherheitspolizei in einem mit Maschinengewehr ausgestatteten Auto an der Hochbahn in Barmbek nach dem Hamburger Aufstand im Oktober 1923. © Staatsarchiv Hamburg Foto: unbekannt
Vom Aufstand gibt es keine gesicherten Fotos - Aufnahmen wie diese aus Barmbek sind am 25. Oktober oder später entstanden. Fotografen weigerten sich Historikern zufolge, vorher Aufnahmen zu machen.

Am Abend des 24. Oktober trifft sich die Hamburgische Bürgerschaft zu einer regulären Sitzung im Rathaus. Der Aufstand sei von den Parteien mit den KPD-Abgeordneten diskutiert worden, aber nur einer von vielen Tagesordnungspunkten gewesen, sagt Historiker Pelc. Auch über die Stadtgrenzen hinaus macht der "Hamburger Aufstand" nicht allzu viel Eindruck: In Kiel und Lübeck kommt es zwar zu Versammlungen und Streiks. Aber dem Aufstand schließen sich die anderen KPD-Gruppen nicht an. Bei gewalttätigen Auseinandersetzungen im Industrieort Lägerdorf bei Itzehoe werden allerdings ein Polizist, ein Arbeiter und eine Frau getötet.

Zwei blutige Tage: 100 Tote, Hunderte Verletzte

Die Bilanz des "Hamburger Aufstands": mehr als 100 Tote. 17 von ihnen sind Polizisten, 24 Aufständische - die meisten jedoch Unbeteiligte. "In den Wachen werden Gefangene von Kugeln getroffen, in Schiffbek stirbt eine Mutter in ihrer Wohnung durch eine Kugel", schildert Historiker Pelc. Vermutlich gibt es damals 300 bis 400 Verwundete. Viele Menschen geraten ungewollt ins Kreuzfeuer, melden sich aber Pelc zufolge nicht - aus Angst, für Aufständische gehalten zu werden. Festgenommen werden insgesamt 1.400 Menschen, rund zwei Drittel von ihnen müssen sich vor Gericht verantworten.

Fast 900 Männer und Frauen wegen des Aufstands verurteilt

KPF-Chef Ernst Thälmann spricht zu Reichstagswahlen auf der Kundgebung zum 1. Mai 1930 im Lustgarten in Berlin. Foto. © picture-alliance / akg-images | akg-images
Dem späteren KPD-Chef Ernst Thälmann wird im Nachhinein eine erheblich größere Rolle beim Aufstand zugeschrieben. In der DDR wird dieses Bild weiter stilisiert.

In den folgenden Jahren werden 873 Männer und Frauen wegen ihrer Beteiligung am "Hamburger Aufstand" vor Gericht gestellt und zu bis zu 15 Jahren Haft verurteilt. Viele müssen die Strafe nicht vollständig absetzen, weil der neue Reichspräsident Paul von Hindenburg 1925 eine Generalamnestie erlässt, um weniger Gefangene versorgen zu müssen. Hugo Urbahns taucht nach dem Putschversuch zunächst unter, wird aber 1924 festgenommen. Im Prozess übernimmt er die volle politische Verantwortung für den Aufstand, nennt aber keine Details. Das Landgericht Hamburg verurteilt ihn zu zehn Jahren Haft wegen Hochverrats. Angesichts seiner Immunität als Reichstagsabgeordneter wird er im Herbst 1925 entlassen. Hans Kippenberger flieht zunächst in die Sowjetunion und wird von der Komintern mit dem Aufbau eines geheimen Militärapparates der KPD betraut. 1937 wird er Opfer der sogenannten Stalinschen Säuberungen und hingerichtet. Ernst Thälmann taucht zeitweise unter und leitet dann bis zu seiner Verhaftung durch die Nationalsozialisten 1933 die KPD.

Kommunisten feiern "Helden" der gescheiterten Revolution

Der "Hamburger Aufstand" wird unterdessen innerhalb der KPD diskutiert, aber letztlich zu einem Mythos stilisiert - ebenso wie die Rolle Thälmanns. Die parteieigene "Hamburger Volkszeitung" widmet bereits am ersten Jahrestag ihre Ausgabe "Den Oktober-Kämpfern zum Gedächtnis" - auf dem Titelblatt der Tageszeitung ist ein muskulöser, großer Mann zu sehen, der eine Flagge mit Hammer und Sichel hält. Zu seinen Füßen stehen zwei vergleichsweise kleine Särge. Im Kommunistischen Jugendverband der 1920er-Jahre singen die Kinder "Hamburgs Jung-Spartakus Lied", das später auch in der DDR beliebt wird:

"In Hamburg fiel der erste Schuss, zum Barrikadenkampf rief Spartakus. Hamburgs Toten haben wir's geschworen, euer Blut ging nicht umsonst verloren; wir schwenken die Fahne, die rote, zum Gruß und folgen euch mutig: Jung-Spartakus!" Aus "Hamburgs Jung-Spartakus Lied"

Der während des NS-Regimes im Konzentrationslager getötete Thälmann wird besonders in der DDR als Held einer gescheiterten Revolution gefeiert. 1954 erscheint dort der Film "Ernst Thälmann - Sohn seiner Klasse". Aufmerksamkeit, die der Putschversuch sonst wohl nie bekommen hätte.

Weitere Informationen
Blick in das Kehrwiederviertel mit Brooksbrücke vor dem Bau der Speicherstadt um 1883 © Archiv Speicherstadtmuseum

Hamburger Geschichte - eine Chronologie

Die Entwicklung des Hafens, der Bau der ersten U-Bahn, der Feuersturm oder die Sturmflut: Ausschnitte aus Hamburgs bewegter Geschichte bis zurück zu ihren Anfängen. mehr

Einzug von König Christian X. von Dänemark in Nordschleswig im Jahr 1920. © dpa

Die 20er-Jahre: Grenzen, Schiffe, Literaten

Ab den 20ern verläuft zwischen Deutschland und Dänemark verläuft eine neue Grenze, Autoren wühlen ihre Leserschaft auf und mit der Norag geht die erste Rundfunkanstalt im Norden an den Start. mehr

Dieses Thema im Programm:

DAS! | 23.10.2023 | 18:45 Uhr

Schlagwörter zu diesem Artikel

Hamburger Geschichte

Mehr Geschichte

"Stern"-Reporter Gerd Heidemann (r.) am 5.04.1983 mit den vermeintlichen Dokumenten, den "Hitler-Tagebüchern". Links Chefredakteur Peter Koch, in der Mitte Redakteur Thomas Walde. © picture alliance/dpa Foto:  Cornelia Gus

"Hitler-Tagebücher"-Skandal: "Stern"-Reporter Heidemann tot

Sein Name ist verbunden mit einem der größten Medienskandale Deutschlands: Gerd Heidemann. Er starb jetzt im Alter von 93 Jahren in Hamburg. mehr

Norddeutsche Geschichte