Buchcover: Uwe Tellkamp - Der Schlaf in den Uhren © Suhrkamp Verlag

Vom Lesen unter Schmerzen? Über den neuen Tellkamp-Roman

Stand: 13.05.2022 18:32 Uhr

Vor 18 Jahren gewann ein damals noch kaum bekannter Autor namens Uwe Tellkamp mit der Erzählung "Der Schlaf in den Uhren" den Ingeborg-Bachmann-Preis. Unter demselben Titel erscheint nun ein neuer Roman von Tellkamp.

Ein Gespräch mit Joachim Dicks, Literaturexperte bei NDR Kultur.

Zehn Jahre hat Uwe Tellkamp sich nach seinem großen Erfolg mit dem Bestseller "Der Turm" Zeit gelassen und jahrelang hat man vermutet, dass der neue Roman eine Fortsetzung davon wird. "Der Turm" endet kurz vor dem Mauerfall. Schließt der neue Roman "Der Schlaf in den Uhren" tatsächlich daran an?

Joachim Dicks: Na ja, nicht so ganz unmittelbar. Es gibt Rückblenden, die in den Oktober 1989 zurückführen, also zu den Demonstrationen, die in Dresden auch eine große Rolle gespielt haben. Da gibt es eine zeitliche Überlappung, ansonsten ist es aber zwischen den Jahren. 2015 ist eine Handlungsebene und die andere führt immer wieder zurück, sodass sich von 1989 die Zeit langsam, aber sicher bis ins Jahr 2015 annähert. 2015 ist kein Zufall, sondern das Jahr, in dem für Uwe Tellkamp biografisch etwas passiert ist, als er sich mit Pegida-nahen Äußerungen in der Öffentlichkeit einen anderen Ruf zugelegt hat. Das hat sich in den letzten Jahren noch weiter zugespitzt. Deshalb spielt dieses Jahr da auch eine besondere Rolle.

Der Roman erscheint erst am Montag, aber die Feuilletons der großen Zeitungen haben die Sperrfrist durchbrochen. Warum ist die Aufregung so groß?

Dicks: Dafür hat Tellkamp selbst gesorgt, wenn einer der erfolgreichsten Schriftsteller seiner Generation sich in tagespolitische Debatten einbringt - was eigentlich wünschenswert ist - aber sich dabei stammtischartig gegen die Einwanderungspolitik der Bundesregierung stellt und sich Sorgen um die Islamisierung unserer Gesellschaft macht. Das kann man alles tun, aber ich glaube, das ist nicht der Punkt gewesen, der zu den Problemen geführt hat, sondern diese Paukenhaftigkeit, mit der er das getan hat. Dann ist da natürlich eine Reizfigur entstanden. Mit dieser Reizfigur auf der einen Seite und der großen literarischen Anerkennung, die Uwe Tellkamp in der Vergangenheit bekommen hat, hätte man in jedem Fall den neuen Tellkamp mit besonderer Aufmerksamkeit wahrgenommen.

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Mit dieser politischen Brisanz einhergehend, ist es natürlich ein besonderes Reizthema geworden. Warum dann alle immer die Ersten sein wollen und warum nicht irgendwo auch ein bisschen Ruhe signalisiert wird? Der Roman ist auch ein Medienroman - und er persifliert an vielen Stellen genau diese Art, wie Meinungen in dieser Republik gemacht werden. Ich glaube, an vielen Stellen wird Tellkamp jetzt sagen: "Es ist genau das, was ich euch in dem Roman auch beschrieben habe".

Du liest den neuen Roman gerade. Über 900 Seiten hat "Der Schlaf in den Uhren". Bist du schon durch?

Dicks: Nein, sonst hätten wir wahrscheinlich auch die Sperrfrist gebrochen und hätten gesagt: "Gut, wenn jetzt die überregionalen Zeitungen alle schon veröffentlichen, dann machen wir das auch". Aber ich bin tatsächlich erst auf Seite 580 und möchte den Roman gründlich zu Ende lesen. Insofern kommt unsere Rezension am Montag, so wie das eigentlich alle hätten machen sollen. Ich habe den dann auch vollständig gelesen. Und ja, es braucht seine Zeit. Der ist sperrig. Die Rezensionen sind mehr oder minder einstimmig in einem Urteil, dass das ein Abstieg ist und dass das kein so großer Erfolgsroman werden wird. Ich stimme dem in der Tendenz zu, nur die Einstimmigkeit, die irritiert mich. Wenn alle einer Meinung sind, dann könnte es sein, dass ich eine andere vertrete.

Und die entwickelt sich noch. Wie liest sich das Buch deiner Meinung nach ansonsten?

Dicks: Es ist vielleicht auch eine Provokation von Tellkamp. Aber jetzt begebe ich mich schon ein bisschen in verteidigende Worte. Dieser 900 Seiten-Wäscher, das ist ein richtiger Ziegelstein, und er macht es einem nicht leicht. Er zieht nicht in die Geschichte rein. Nach hundert Seiten hatte ich immer noch keine Übersicht. Wo spielt dieser Roman eigentlich? Was ist dieser Stadtstaat Treva? Wo sind diese unterirdischen Katakomben, in denen Nachrichtenagenturen dafür sorgen, dass alles organisiert und abgestimmt wird?

Auch Fabian Hofmann, eine Nebenfigur aus "Der Turm", der jetzt zum Protagonisten wird, bleibt in seiner Kontur ein wenig farblos. Es ist wirklich schwierig und jetzt auf Seite 580 ist es mir immer noch nicht leichter gefallen. Ich glaube nicht, dass das ein Millionen-Erfolgsschlager wird. Aber vielleicht ist es so ähnlich wie bei James Joyce mit "Finnegans Wake". Das haben auch kaum Menschen gelesen und es gehört doch in den Kanon der Weltliteratur. Also nicht so schnell urteilen.

Als Uwe Tellkamp 2004 den Ingeborg-Bachmann-Preis gewann und dann sein Roman "Der Turm" erschien, jubelten die Feuilletons: Endlich gäbe es ein Nachfolger von Thomas Mann. Kannst du diesen Vergleich nachvollziehen beim Lesen von Tellkamps neuem Roman?

Dicks: Von Thomas Mann entdecke ich noch nicht mal den Schatten eines Schattens. Der Vergleich hat mir schon beim Turm nicht gefallen. Immer, wenn Familienromane mit Untergangsszenarien einhergehen, dann wird sofort der Zusammenhang zu den "Buddenbrooks" von Thomas Mann hergestellt, als gäbe es in diesem Land kein größeres Bedürfnis, endlich wieder einen neuen Thomas Mann zu bekommen. Das brauchen wir vielleicht gar nicht. Ich finde es jedenfalls einfallslos.

Bildungsbürgerliche Hintergründe, die wir bei Thomas Mann sehr schätzen, spielen auch im neuen Tellkamp Roman eine große Rolle. In "Der Turm" war das das Bildungsbürgertum in den 1980er-Jahren der DDR, was da toll charakterisiert und geschildert worden ist, und das setzt er hier fort. Und es geht nicht nur um Literatur, sondern auch um bildende Kunst und Filmgeschichte. Fabian Hofmann ist früher Filmvorführer gewesen und es gibt ganz tolle Passagen darüber, wie er sich an diese Filme erinnert und wie die sein Leben beeinflusst haben: die Western, wie er gemerkt hat, dass er, wenn er eine Handvoll Dollar gesehen hat, ganz anders über die Straße gegangen ist... Das sind Stellen, bei denen ich auch merke, dass Uwe Tellkamp erzählen kann.

Er ist schon ein grandioser Erzähler, aber diese Montagetechnik, die im Turm gut aufgegangen ist, wird hier noch kleinteiliger und dadurch zerfasert das Ganze ein wenig. Thomas Mann erwarte ich auch bei der restlichen Lektüre des Romans nicht. Ich war nicht auf der Suche danach und vielleicht sollten wir endlich akzeptieren, dass Thomas Mann tot ist und wir nicht jeden Gegenwartsautor in diese große Linie zu zerren versuchen sollten.

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NDR Kultur | Klassisch unterwegs | 13.05.2022 | 14:40 Uhr