Ein Foto der Fuhlenseebrücke. © NDR Foto: Karl Dahmen

Die Geschichte von "Latrinemünde": Wie Kiel ein stinkendes Problem löste

Stand: 05.08.2022 15:15 Uhr

Bis in die 1970er Jahre wurde das Kieler Schmutzwasser per Rohr in die Kieler Förde gepumpt. Für damalige Verhältnisse war das "Bülker System" ein bundesweites Vorzeigeprojekt - mit fadem Beigeschmack.

von Karl Dahmen

Kiel hatte ein Problem: Es stank. Bis 1914 entwickelte sich die Stadt von einer mittleren Landstadt zu einem Industriestandort mit mehr als 200.000 Einwohnern. Die Menschen arbeiteten und wohnten, machten Dreck, brauchten Toiletten. Es entstand Schmutzwasser, bei dem man nicht wusste, wohin es sollte. In den Westensee? Da gingen die Landbewohner auf die Barrikaden. In den "Kleinen Kiel"? Der konnte, neben dem Gestank, die erwarteten Mengen gar nicht aufnehmen. In die Kieler Förde? Hier war gerade der Reichskriegshafen gebaut worden und die Admiräle liefen Sturm gegen den Plan, dass ihre Schlachtschiffe in Schmutzwasser fahren sollten.

Das "Bülker System" wurde erfunden

Eine Pumpe. © NDR
Das Schwungrad der ersten Kieler Pumpe des "Bülker Systems", zu sehen im Kulturzentrum Pumpe.

Schließlich kamen die Kieler Ingenieure kurz nach 1900 auf einen in Deutschland einmaligen Plan: Sie entwarfen das "Bülker System". Ein großes Rohr sollte durch das Stadtgebiet, durch einen Tunnel und eine Brücke, bis nach Strande verlegt werden. Eine abwassertechnische Sensation, die in ganz Deutschland beobachtet wurde und für die damalige Zeit sensationell war. 1922 war das Bauwerk fertig und führte von Kiel bis an die Ostsee, etwa 150 Meter westlich vom Leuchtturm Bülk - heute Gemeinde Strande (Kreis Rendsburg-Eckernförde). Noch waren aber nicht alle technischen Geräte für den Betrieb der Leitung im Einsatz, das geschah erst 1925. Das "Bülker System" nahm seine Arbeit auf. Schmutzwasser und Schlachtabfälle wurden mit großem Druck die 20 Kilometer von Kiel nach Bülk geschickt. Einige große Pumpen halfen dabei. Sie pumpten das Schmutzwasser unter dem Nord-Ostsee-Kanal durch, über die Fuhlensee-Brücke bis zum Ostseestrand. Übrigens: Das Kieler Kulturzentrum "Pumpe" hat seinen Namen, da hier immer noch das Schwungrad der ersten Kieler Pumpe des "Bülker Systems" zu sehen ist.

"Latrinemünde" an der Ostsee

An einem Strand steht ein Schild mit der Aufschrift "Badeverbotszone". © NDR
Hier wurde bis in die frühen 1970er Jahre der "Kieler Schiet" in die Förde gepumpt.

Zunächst führten nur 70 Meter des Rohrs in das Förde Gewässer. Dann spie es, zur Freude von Abertausenden von Möwen, den ganzen Kieler "Schiet" aus. Insgesamt eine "Schweinerei erster Güte", wie zum Beispiel die Strander Einwohner sagten. Dessen Bürgermeister schimpfte noch 1971, dass es doch nicht wahr sein könne, dass die Landeshauptstadt Kiel jeden Tag 50 Millionen Liter Jauche in die Ostsee kippe. Nicht nur seine Stadt sei betroffen, meinte er, sondern auch der Kieler Ortsteil Schilksee und die Orte des anderen Fördeufers wie Wentorf und Kalifornien. Er überlege nun, so der Bürgermeister, ob seine Behörde Warnsignale geben solle, wenn der Wind ungünstig stand.

Die Olympischen Spiele brachten den Kielern ein Klärwerk

(Platzhalter) © NDR
Das Klärwerk in Bülk war einst ein ökologischer Vorreiter im Land.

Doch die "Rettung" kam mit einem sportlichen Ereignis. Die Olympischen Segelwettbewerbe wurden für 1972 nach Kiel vergeben und die Landeshauptstadt baute in Schilksee einen luxuriösen Hafen für die sechs olympischen Bootsklassen. Dass die Boote ihren Kampf um Gold, Silber und Bronze in einer von Schmutzwasser und Schlachtabfällen stinkenden Brühe machen sollten, war undenkbar. Endlich konnte man sich zum Bau eines Klärwerks für Kiel entschließen, das 1972 seine Arbeit aufnahm. Zunächst gab es nur eine mechanische Reinigung, später kamen auch eine chemische und biologische Reinigung dazu.

Heute ist das Klärwerk ein Vorbild, ein ökologischer Vorreiter, das seinen eigenen Stromverbrauch, immerhin von der Größe einer deutschen Kleinstadt, selbst decken kann. Von "Latrinemünde" an der Ostsee zur modernen Kläranlage: Bülk ist einer der spannendsten Orte in Schleswig-Holstein - mit Geschichten, die lohnen, erzählt zu werden. Trotzdem: Viele Kieler baden immer noch nicht in Bülk. Die Geschichten von Vätern und Großvätern halten sie davon ab.

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Dampflokomotive aus dem 19. Jahrhundert. © dpa - report Foto: Votava

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Dieses Thema im Programm:

Schleswig-Holstein Magazin | 07.08.2022 | 19:30 Uhr

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