Als Kiel in Trümmern lag: Über das Flüchtlingslager Kollhorst
Das Land zerstört und dann auch noch Millionen Vertriebene zu versorgen: Das war die Ausgangssituation für unsere Urgroßeltern, Großeltern und Eltern vor 75 Jahren, in den ersten Jahren nach dem Krieg. Einfach war das nicht. Vor allem nicht für die Flüchtlinge.
Anfang 80 sind sie alle in der kleinen Gruppe um den Tisch in dem Restaurant in Kiel-Hasseldieksdamm. Ein paar Ecken weiter sind sie groß geworden, als Flüchtlingskinder. Im Lager Kollhorst, einem Barackenlager. Mehr als 40 solcher Not-Quartiere gab es in den Nachkriegsjahren in Kiel. Heute sind alle Spuren verschwunden. Aber die Flüchtlingskinder von damals treffen sich regelmäßig und tauschen ihre Erinnerungen aus. "Das ist immer da, das kann man nicht so einfach zur Seite legen", sagt Olga Driedger, 85. Als der von Deutschland angezettelte Krieg nach Deutschland zurückkam - da war sie mit ihrer Familie mittendrin, auf der langen Flucht Richtung Westen: "Und wenn die Sirenen gingen, dann war das egal, welcher Keller gerade erreichbar war - Hauptsache Keller."
Das zerstörte Kiel, das Barackenlager Kollhorst ist für die Flüchtlingskinder ein Grund zum Aufatmen. "Naja, da war Hauptsache ankommen - und zur Ruhe kommen", erzählt Helmut Dumke. Und dann: neu anfangen, mit so gut wie nichts.
Frieden und bittere Not
Die ersten Friedenswinter sind hart und lang. Die Lebensmittelversorgung schlechter als in der Kriegs-Endphase, denn Produktion und Infrastruktur sind zusammengebrochen. Alles ist knapp: Essen, Medikamente, Wohnraum. Mit den Flüchtlingen und Vertriebenen wächst die Bevölkerung in Schleswig-Holstein von 1,6 auf 2,7 Millionen Menschen. Von Willkommenskultur ist damals keine Rede.
Flüchtlingskinder: Das sind die mit den Läusen. Mit denen spielt man nicht. "Wenn wir durchs Dorf gelaufen sind, dann wurden die Gardinen zugezogen", berichtet Edgar Ehling. "Mit Flüchtlingen wollten viele nichts zu tun haben." Erfindungsreichtum war damals gefragt: "Meine Mutter hat dann Arbeit in der Fischfabrik gefunden und Fisch und angeschlagene Konserven geklaut. Das hat uns geholfen und den Rest habe ich dann verkauft."
Improvisieren und zusammenhalten
Auch wenn die Flüchtlinge damals oft ausgegrenzt wurden - die Kinder hielten zusammen. "Bei uns im Lager wurde nie geklaut, das wundert mich bis heute. Da konnte man die Türen offen lassen", sagt Edgar Ehling. Wer im Lager Kollhorst als Kind vor die Tür trat, findet schnell Spielgefährten. "Wir haben das nicht gespürt, was unsere Eltern empfunden haben, die Entbehrung, den Verlust, die Sehnsucht nach der alten Heimat. Für uns Kinder war es im Grunde genommen jahrelang nur Abenteuer", sagt Helmut Dumke.
Harte Arbeit und Geduld
Ranklotzen mussten sie alle. "Da wurde nicht gefragt, ob du zehn oder 15 bist. Mithelfen mussten wir alle", sagt Irma Fabian-Meier, 80. Die ersten Jahre waren hart, dann kam der Wiederaufbau in Gang, auch mit Hilfe der einstigen Kriegsgegner. Neue Arbeitsplätze entstanden, auch wenn viele Flüchtlinge nur außerhalb Schleswig-Holsteins einen Job fanden. Wirtschaftswunder-Zeit: Land und Bund förderten den Wohnungsbau, für Flüchtlinge und Vertriebene gab es besondere Zuschüsse und Entschädigungen. Es ging aufwärts. Langsam - "aber die Richtung stimmte und das haben wir damals gemerkt. Es muss nicht immer alles sofort sein. Mit Genügsamkeit, Bescheidenheit und Hartnäckigkeit haben wir das geschafft", sagt Helmut Dumke. Bei der Bewerbung um eine Lehrstelle habe er aber ein bisschen geschummelt, seine Adresse etwas umformuliert, damit nicht sofort klar war, dass er immer noch im Flüchtlingslager lebte.
Die letzten Zeitzeugen
Kiels letzte Flüchtlingslager wurden erst Anfang der 1970er-Jahre aufgelöst. Heute ist keines mehr erhalten - auch Kollhorst nicht. Aber seine damaligen Bewohner wollen die Erinnerung daran bewahren, wollen zusammentragen, was es an Material gibt. Helmut Dumke sagt: "Irgendwann sind dann nämlich keine Zeitzeugen mehr da. Und ein Zeitzeuge, das ist eben einfach etwas anderes als alle Bücher und aller Geschichtsunterricht. Gerade jetzt, wo wir wieder aktuelle Bilder sehen von Krieg, Zerstörung - und Flüchtlingen. Wir haben das erlebt." Und sie haben es geschafft.