Kieler Soldaten an der NATO-Ostflanke

Stand: 12.12.2022 20:28 Uhr

Der deutsche Tender "Mosel" führt einen NATO-Verband in der östlichen Ostsee an. Ein heikles Manöver, bei dem es immer wieder Kontakt mit der russischen Marine gibt. Ein NDR Team hat die Kieler Soldaten exklusiv auf See begleitet.

von Andreas Schmidt

Es dauert Minuten, bis die Augen sich gewöhnen. Dann sieht man schemenhaft Gestalten auf der Schiffsbrücke der "Mosel" stehen. Einige Gesichter sind matt angeleuchtet von den gedimmten Monitoren. Am Durchgang zum Kartenraum brennt eine Schreibtischlampe mit roter Glühbirne. Es wummert der Antriebsdiesel, es heulen die Lüfter, es knarzt und quietscht der Kreiselkompass. Es ist Nacht auf See.

Eine Art bewaffnetes Frachtschiff

Der Kieler Tender "Mosel" steuert durch internationale Gewässer auf Estland zu. Ein Tender ist eine Art bewaffnetes Frachtschiff, das auf See kleinere Boote der Marine mit Munition, Treibstoff und Lebensmitteln versorgt. Aktuell hat die "Mosel" aber auch einen multinationalen Stab der NATO an Bord, sowie den estnischen Kommandeur des NATO-Manövers "Brilliant Shield". Der Tender ist damit das Flaggschiff eines Verbandes, der als Reaktion auf den russischen Überfall auf die Ukraine in erhöhte Alarmbereitschaft versetzt worden ist. "Very High Readiness" heißt das im NATO-Jargon. Der Verband patrouilliert an der Ostflanke der Nato, dicht an russischen Gewässern.

Deeskalieren und wehrhaft sein

Auf der Brücke hält sich Kommandant Stefan Ladewich meistens höflich zurück, greift nur ein, wenn seine jungen Offiziere etwas übersehen. Ladewich ist selbst erst 32 Jahre alt, hat Betriebswirtschaftslehre bei der Bundeswehr studiert und ist dann in der Marine aufgestiegen. Jetzt hat er das Kommando über ein 100 Meter langes Kriegsschiff und trägt die Verantwortung für die etwa 80-köpfige Besatzung. Schneller kann man kaum Karriere machen in der Bundeswehr. Er ist ein Mann, der sich sehr genau überlegt, was er sagt und vor allem, was besser nicht. Immer wieder ist die "Mosel" auch russischen Kriegsschiffen begegnet. "Dann haben wir immer im Hinterkopf, dass die zu einer Nation gehören, die aktiv Krieg führt und deeskalieren, wo wir können. Gleichzeitig zeigen wir aber, die deutsche Marine ist wehrhaft und bereit, unsere NATO-Flanke zu verteidigen."

"Wir üben nicht mehr nur, um zu üben. Das ist real!"

Schon seit Mitte Juli ist die Besatzung der "Mosel" auf See. Das kann zermürben und abstumpfen, gerade jetzt, auf den letzten Metern, wenn es in Richtung Heimat geht. "Wenn ich Russland wäre und wollte die NATO angreifen, ich würde es in der Weihnachtszeit tun," sagt Ott Laanemets. Der estnische Fregattenkapitän ist ein drahtiger Mann mit raspelkurzen Haaren. Er ist der Kommandeur des gesamten Einsatzes. "In der Weihnachtszeit werden Menschen unkonzentriert und wollen nach Hause. Das ist gefährlich." Laanemets estnische Heimat liegt direkt an der Grenze zu Russland. Vielleicht spricht er die Dinge deshalb sehr viel deutlicher aus als die deutschen Soldaten. "Eine neue Ernsthaftigkeit" nimmt er in diesem Einsatz wahr. "Wir üben nicht mehr, um zu üben. Das hier ist real. Wir bereiten uns auf den Ernstfall vor." In den engen Gewässern der Ostsee sind die Marinen vieler Nationen präsent. Um so vorsichtiger agierten die Deutschen, aber auch die Russen, versichern die Brückenoffiziere.

'Silver Hammer' im Einsatz

Plötzlich lässt Kommandant Ladewich seine Zurückhaltung fallen und brüllt: "'Silver Hammer'!". Sofort stürzen alle auf ihre Positionen auf der Brücke. "Silver Hammer" ist der Name für das Marineleichtgeschütz (MLG). Auf jeder Bugseite der "Mosel" steht so eine Maschinenkanone. Bis zu 1.500 Projektile kann das MLG in einer Minute verschießen. Das ist genug Feuerkraft, um Speedboote, kleine Schiffe oder langsame Flugzeuge abzuwehren. "Befehl: Feuerstoß!" Für einen Bruchteil einer Sekunde blitzt es am Bug auf, 13 27-Millimeter-Geschosse landen im Wasser, dann ist alles vorbei. Kommandant Ladewich guckt auf seine Stoppuhr. "Eine Minute, vier Sekunden bis wir einen Schuss abgeben. Das ist sehr gut. Ich kann mich nachher irgendwann beruhigt schlafen legen," lacht er. Die Wahrheit ist, dass er selten mehr als vier Stunden am Stück schläft. Die Verantwortung hält ihn wach.

Sehen und gesehen werden

Am nächsten Morgen steigen vier vermummte Gestalten mit Skibrillen in ein wackeliges Motorboot. Es sind lettische Taucher, schweigsame, durchtrainierte Spezialkräfte. Einer von ihnen trägt ein Paket mit fünf Kilo Plastiksprengstoff bei sich. Mit ihrem Tauchequipment fahren sie etwa eine Seemeile von der "Mosel" weg. Das eisige Seewasser gefriert auf ihren Brillen. Sie sollen auf dem Grund einen Sack mit alter Munition finden und mit dem Plastiksprengstoff hochjagen. Schon eine Stunde später steigt eine riesige Wasserfontäne auf, noch in einer Meile Entfernung erzittert der Rumpf der "Mosel". Die Taucher haben ihren Job erledigt. Diesmal war es nur eine Übung, aber sie ist auch ein Signal. Kommandeur Ott Laanemets ist zufrieden: "Jeder, der hier möglicherweise Minen legen will, wird sehen, dass wir da sind und ihm das verweigern werden." Laanemets geht wie alle davon aus, dass die "Mosel" von russischen Geheimdiensten beobachtet wird, aber das sei "part of the game" und wichtig für die Abschreckung.

Um die Mittagszeit nimmt die "Mosel" Kurs auf die estnische Hauptstadt Tallinn. Nach fast einem halben Jahr auf See ist dies der letzte Auslandshafen der Crew. Alle wollen nur noch nach Hause, nach Kiel. Weihnachten sind sie zu Hause, mindestens das. Die NATO schickt erst im neuen Jahr wieder einen Verband in die östliche Ostsee.

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Dieses Thema im Programm:

Schleswig-Holstein Magazin | 12.12.2022 | 19:30 Uhr

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