Polizeiabsperrband ist am Schauplatz eines Tötungsdelikts zu sehen. © picture alliance

Gewalttaten in der Familie: "Eine psychische Bankrott-Erklärung"

Stand: 14.01.2022 10:08 Uhr

Familiendrama, erweiterter Suizid - eher unpassende Begriffe für Taten, die für die meisten von uns nur schwer zu fassen sind. Wir haben mit Experten über Hintergründe, Warnsignale und Hilfsangebote gesprochen.

von Astrid Wulf

Die letzte Tat dieser Art ereignete sich offenbar im Dezember in Glinde. Die Ermittler gehen davon aus, dass ein Vater erst auf seine Kinder, dann auf seine Frau schoss hat und die Waffe dann gegen sich selbst richtete. Die Zahl der Fälle häuslicher Gewalt hat in den vergangenen Monaten deutlich zugenommen, so das Landeskriminalamt auf Anfrage von NDR Schleswig-Holstein. Wer Tötungsdelikte in der Familie und Suizid begeht, ist allerdings häufig vorher nicht als Gewalttäter aufgefallen, sagt Kay Wegner, Fachbereichsleiter Täterarbeit im Pro Familia Landesverband Schleswig-Holstein - oft sei das Tötungsdelikt die erste Gewalttat überhaupt.

Mögliche Gründe: Schwere Krisen, psychische Probleme

Anders als bei häuslicher Gewalt stehe für die Betroffenen im Vordergrund, das eigene Leben zu beenden, so Kay Wegner. Dem geht eine "psychische Bankrotterklärung" voraus, die häufig Folge einer schweren Krise ist, mit der die oder der Betroffene nicht umzugehen weiß. Oft werfen Trennungen die künftigen Täterinnen und Täter aus der Bahn, auch finanzielle Probleme oder eine lebensverkürzende Diagnose. Oft kommen psychische Probleme wie Depressionen, Angststörungen und Sucht hinzu.

Motive für Tötungen sind unterschiedlich

Nicht nur sich, sondern auch Familienmitglieder oder zum Beispiel die Ex-Partnerin zu töten - dafür gebe es unterschiedliche Motive, sagt Soeren Hauke, Leiter der Suizidpräventions-Beratungsstelle "Lichtblick" in Flensburg. Gerade nach Trennungen werden manche Männer von Gedanken der Art: "Wenn ich sie nicht haben kann, soll sie niemand haben" angetrieben. Auch Frauen können Täterinnen werden, sagt Soeren Hauke. "Männer nehmen häufiger Partnerinnen oder Ex-Partnerinnen mit in den Tod, bei Frauen sind es viel häufiger die Kinder. Sie wollen ihre Kinder nicht ohne die Mutter in dieser - nach Sicht der Täterinnen - schrecklichen Welt zurücklassen."

Beratungsstellen helfen, Probleme zu lösen

Eines haben alle Täterinnen und Täter gemeinsam: Sie sehen keinen Ausweg aus einer sehr belastenden Situation, haben alle Hoffnung verloren. Allerdings gibt es immer Wege und Unterstützung, um auch mit heftigen Problemen umzugehen sagt Soeren Hauke - auch wenn es sich für die Betroffenen anders anfühlt. "Hier geht es um eine medizinische, psychiatrische, psychotherapeutische Unterstützung, die mir hilft, meine Sicht auf die Dinge zu ändern. Dass ich den Gedanken entwickle: Okay, dieses Problem ist lösbar." Im akuten Falle können zum Beispiel psychiatrische Notfallambulanzen die richtigen Anlaufstellen sein. Um eine Trennung zu verarbeiten oder finanzielle Probleme in den Griff zu bekommen, können hingegen Rechts- oder Familienberatungen sowie Schuldnerberatungen helfen. "Da gibt es ein breites Netzwerk", sagt Soeren Hauke von "Lichtblick".

Sorgentelefone: Niedrigschwellige Angebote für Menschen in Krisen

Die Telefonseelsorge oder die "Nummer gegen Kummer" sind schon jetzt niedrigschwellige Angebote für Menschen, die nicht weiterwissen. Kay Wegner vom Pro Familia-Landesverband wünscht sich zusätzlich eine Hotline speziell für Betroffene, die mit dem Gedanken spielen, sich oder eben auch der Partnerin oder Kindern etwas anzutun - nach Vorbild der Aktion "Kein Täter werden" für Menschen mit pädophilen Neigungen.  

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Eine bedrückte Frau telefoniert. © picture-alliance/ZB Foto: Marion Gröning

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Nach Trennungen: Auf Warnsignale achten

Auch wenn Familiengewalttaten mit anschließendem Suizid häufig scheinbar aus heiterem Himmel geschehen: Oft gibt es Warnzeichen, auf die Freunde und Angehörige achten können. Nach Erfahrung von Kay Wegner sprechen viele Betroffene bereits vor möglichen Taten über ihre Verzweiflung, zum Beispiel nach Trennungen: "Wenn der künftige mögliche Täter sagt, dass er sich ein Leben ohne die Partnerin und die Kinder gar nicht mehr vorstellen kann und dass sein Leben gefühlt eigentlich zu Ende ist - das deutet auf eine schwere psychische Krise hin." Auch Frauen potentieller Täter haben es häufig im Gefühl, wenn ihr Ex-Partner nach einer Trennung ausrasten könnte, so Wegner: "Frauen neigen in solchen Situationen eher dazu, die Situation zu unterschätzen. Wenn man eine Frau fragt, ob sie Angst hat, von ihrem Partner getötet zu werden, und sie bejaht das, dann sollte sie sich dringend Hilfe in einer Frauenfachberatungsstelle holen."

Betroffene ansprechen: "Ich habe Angst, dass du dir etwas antust."

Auch die potentiellen Täter selbst, die sich und womöglich andere mit in den Tod nehmen könnten, sind häufig erleichtert, wenn sie jemand auf ihre Probleme anspricht, sagt Soeren Hauke von der Beratungsstelle "Lichtblick". "Ich empfehle immer erstmal zu sagen: 'Ich habe das Gefühl, dir geht es nicht gut. Möchtest du darüber reden?' Wenn man mutig ist und sich traut, kann man auch sagen: 'Ich habe wirklich Angst, dass du dir etwas antust in dieser schweren Situation.'" Wer Menschen in schweren Krisen seine Hilfe anbietet, soll dabei aber auch immer darauf achten, sich selbst nicht zu überfordern. Oft hilft schon ein offenes Ohr und der Hinweis, dass sich die Betroffenen unbedingt an Fachleute wie Beratungen oder psychiatrische Anlaufstellen wenden sollen - auch dabei kann man die Betroffenen bei Bedarf unterstützen.

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Wenden Sie sich in akuten Krisen an eine psychiatrische Notfallambulanz oder wählen Sie den Notruf 112.

Telefonseelsorge

Die Telefonseelsorge ist 24 Stunden an 365 Tagen im Jahr erreichbar unter (0800) 111 01 11 oder (0800) 111 02 22 oder 11 61 23. Der Anruf ist kostenfrei.

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