Beschleunigt die Krise den Ausbau der erneuerbaren Energien?

Stand: 25.10.2022 21:59 Uhr

Bei der Fachtagung Powernet in Büdelsdorf (Kreis Rendsburg-Eckernförde) kamen Unternehmer, Politiker und Energieexperten zusammen. Es ging um die Energiewende und um Wege aus der Energiekrise. Wo steht Schleswig-Holstein beim Ausbau der erneuerbaren Energien?

von Sven Jachmann

Der Druck auf die Politik ist seit dem Krieg in der Ukraine gestiegen. Erst ging es darum die Klimaschutzziele zu erreichen. Nun soll Deutschland aber auch möglichst schnell vom russischen Gas unabhängig werden. Die Politik muss deshalb für die rechtlichen Rahmenbedingungen sorgen. Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne) zufolge dient der Ausbau der erneuerbaren Energien dem öffentlichen Interesse. Dafür hat er bereits eine umfassende Gesetzesnovelle im Bundeskabinett vorgelegt. Sie soll den Ausbau beschleunigen. Generell soll der Großteil aller Energie für Strom, Verkehr und Heizung in zehn Jahren aus Wind- und Sonnenenergie stammen.

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Die Fachtagung "Power Net"zum Thema Energiewende in Büdelsdorf. © Screenshot
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Fachtagung zum Thema Energiewende in Büdelsdorf

Bei der "PowerNet" kommen Politik, Wirtschaft und Gesellschaft ins Gespräch. Es ist die erste Fachtagung dieser Art im Norden. 2 Min

Schlüsselrolle Windkraft: Ausbau von Offshore-Anlagen

Bis 2045 sollen Offshore-Anlagen die zehnfache Menge Strom produzieren. Das sind dann 70 Gigawatt. Dieses Ziel hat die Regierung in einem neuen "Windenergie-auf-See-Gesetz" festgeschrieben. Der Bundestag hat dem Gesetz im Juli zugestimmt. Es soll mehr Tempo in die Umsetzung bringen: So werden langwierige Planfeststellungsverfahren durch kürzere Plangenehmigungsverfahren ersetzt. Im ersten Halbjahr 2022 setzt sich die in Deutschland produzierte Strommenge nach Angaben des statistischen Bundesamtes folgendermaßen zusammen: 51,5 Prozent konventionell, 48,5 Prozent erneuerbar. Rund zehn Prozent der erneuerbaren Energien stammen aus Offshore-Anlagen. Der Anteil der Erneuerbaren soll bis 2030 auf 80 Prozent steigen.

Repowering: Neue Windräder ersetzen alte Anlagen

Auch die Windanlagen an Land sollen mehr Strom produzieren. Doch die Flächen sind rar. Um das Ziel zu erreichen, setzt die Landesregierung auf Repowering. Leistungsstärkere Anlagen sollen alte Anlagen ersetzen.

Wie zum Beispiel in der Wilstermarsch bei Brunsbüttel: Dort baut Siemens-Gamesa die leistungsstärksten Windräder Europas. Die beiden neuen Windräder produzieren pro Stück 6,6 Megawatt. Sie produzieren mehr Windstrom als vier ältere Anlagen zusammengenommen, die abgebaut werden sollen. Nach Angaben des Betreibers stehen die beiden neuen Windräder kurz vor der Inbetriebnahme. Allerdings sind moderne Windräder inzwischen 200 Meter hoch. Dadurch vergrößert sich der Mindestabstand zu den Siedlungen. Die Anlagen müssen den fünffachen Abstand ihrer Höhe zu Gebäuden einhalten - in diesem Fall also bis zu einem Kilometer. Inwiefern dies die Zwei-Prozent-Regel beeinflusst, ist noch unklar. Bundesweit sollen zwei Prozent der Flächen für Windräder genutzt werden, um den Ausbau der Windkraft voranzubringen.

Windstrom wird zukünftig zum Heizen und für die Wasserstoffproduktion eingesetzt. Wie groß der Anteil wird, ist offen. Fest steht aber, so hat es das Bau- und Wirtschaftsministerium im Juli dieses Jahres beschlossen: Ab 2024 müssen neu eingebaute Heizungen zu mindestens 65 Prozent mit erneuerbaren Energien betrieben werden. 

Nutzung von Phantomstrom bislang nicht möglich

Ein Teil des in Schleswig-Holstein produzierten Windstroms kann nicht genutzt werden. Bei gutem Wind werden Windräder abgeriegelt, denn der Strom würde die Netze überlasten. Jedes Jahr gehen so mehr als drei Terawattstunden verloren. Damit könnten 20 Prozent des Gasbedarfs in Schleswig-Holstein gedeckt werden. Es ist noch nicht möglich, dass die Stadtwerke diesen Phantomstrom zum Heizen verwenden. Dafür müsste erst ein Sondertarif für Schleswig-Holstein entwickelt werden. Energieminister Tobias Goldschmidt (Grüne) ist gefordert, gesetzliche Grundlagen für diesen Sondertarif zu schaffen und beim Bundeswirtschaftsminister in Berlin eine Lösung zu erzwingen. Seit zehn Jahren ist das Problem bekannt. Ob der Krieg in der Ukraine den Prozess beschleunigt, ist noch nicht zu erkennen.

Wasserstoffproduktion mit überschüssigem Windstrom

Die Branche könnte längst den überschüssigen Strom nutzen, sagt Mai-Inken Knackfuß vom Unternehmerverband Watt 2.0 in Husum (Kreis Nordfriesland). "Das Einfachste wäre, den überschüssigen Strom dort, wo er anfällt, zu nutzen beziehungsweise zu speichern. Ein Beispiel wäre, direkt an das Windrad einen Elektrolyseur anzuschließen, um mit dem Windstrom Wasserstoff zu produzieren." Das werde auch schon umgesetzt. Allerdings sorgt die EU mit einem Gesetzesentwurf bei den Betreibern für Kritik. Grüner Wasserstoff könne nur mit neuen Windkraftanlagen produziert werden, die an ein Stromnetz angeschlossen sind, heißt es aus Brüssel.

Die Vision vom grünen Wasserstoff

Mit überschüssigem Windstrom Wasserstoff produzieren, das elektrisiert die Branche. Der Wasserstoff könne zum Beispiel in das Fernwärmenetz eingespeist werden. Einer der zukünftigen Produzenten ist die Raffinerie in Heide (Kreis Dithmarschen). Dort soll im kommenden Jahr ein Elektrolyseur in Betrieb gehen. Wird der EU-Gesetzentwurf Realität, ist das Vorhaben nicht umsetzbar.

Rückgrat der Energiewende: Neue Stromtrassen Südlink und Korridor B

Um das Problem Phantomstrom zu lösen, setzt die Regierung bisher auf den Netzausbau und die Verlegung neuer Stromtrassen von Schleswig-Holstein nach Nordrhein-Westfalen und Süddeutschland. Der Windstrom soll in ganz Deutschland genutzt werden. Die Trassen Südlink und Korridor B starten jeweils von Dithmarschen aus Richtung Süden. Die Leitungen verlaufen unterirdisch. Doch bis der Windstrom den Süden erreicht, vergehen Jahre. Südlink soll 2028 fertig sein, Korridor B 2030. Tausende Anrainer und Grundstücksbesitzer sind betroffen. Mit allen Gemeinden besteht Abstimmungsbedarf.

Der Husumer Ökonom und Energieexperte Ralf Waldmann hofft auch bei komplexen Vorhaben wie diesen auf Beschleunigung: "Es ist heute immer noch so, dass Sie in jeder Instanz bis zur letzten Sekunde Einspruch erheben können. Hier müssen die Verfahren eher geschlossen werden. Doch diesen Punkt haben wir bei vielen Trassen noch nicht erreicht. Aber das brauchen wir, für die Planungssicherheit und für mehr Tempo beim Trassenausbau." Betroffene Anwohner kritisieren den Bau der Leitungen aus diversen Gründen. Die Leitung zerstöre die Natur oder verlaufe zu nah an ihren Häusern. Landwirte haben Angst, dass ein Stromkabel in ihren Feldern ihre Ernte beeinflusst.

Solar boomt in Schleswig-Holstein

Paradox: Schleswig-Holstein ist nicht das Sonnenland Nummer eins in Deutschland. Und doch wurde nach Angaben von SH Netz 2021 erstmals mehr neuer Solarstrom eingespeist als neuer Windstrom.

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Nach Angaben des Netzbetreibers wurden 2021 Photovoltaikanlagen mit einer Leistung von 176 Megawatt Peak (MWp) und Windkraftanlagen mit einer Leistung von 139 Megawatt (MW) in Betrieb genommen. Insgesamt beträgt die Leistung der in Schleswig-Holstein betriebenen Solaranlagen 1.700 MWp, die der Windenergieanlagen 7.000 MW.

"Wir sehen hier eine sehr dynamische Entwicklung", sagt Energieexperte Ralf Waldmann. "Die Kommunen weisen mehr Flächen aus. Außerdem steigt die Nachfrage bei den privaten Hausbesitzern und Firmeninhabern." Hier gehe die Umsetzung wesentlich schneller. Außerdem gibt es Förderungen vom Staat, die Lieferung und Installation von Anlagen ist von der Umsatzsteuer befreit. Eine aufwendige Steuererklärung entfällt. All das macht Solar für Hausbesitzer wieder attraktiv.

Bundesregierung fährt Höchsttempo bei LNG

Beim Flüssigerdgas LNG zeigt die Bundesregierung höchste Entschlossenheit. Noch nie wurde ein derartiges Infrastrukturprojekt so schnell durch- und umgesetzt. Seit September wird in Brunsbüttel (Kreis Dithmarschen) an der Pipeline gebaut.

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Insgesamt biete laut Wirtschaftsminister Habeck die Krise die Chance, die ganze "Schlafmützigkeit und Bräsigkeit", die es in Deutschland gebe, abzuschütteln. Zwar müssen die Betreiber mehrere tausend Seiten Unterlagen für den Genehmigungsprozess einreichen, doch die Politik hat das gesamte Verfahren beschleunigt. Dafür hatte sie im Mai ein Beschleunigungsgesetz verabschiedet. In Brunsbüttel wird Flüssigerdgas in Erdgas umgewandelt. Dieses umgewandelte Gas wird dann ins Erdgasnetz zum Heizen eingespeist. Doch bei all dem handelt es sich um eine Übergangslösung. Das Terminal in Brunsbüttel soll ab 2043 nur noch für klimaneutralen Wasserstoff und dessen Derivate genehmigt werden.

Ausbau und Digitalisierung

Neben der Wasserstoffnutzung gibt es eine weitere Vision bei der Stromversorgung. Die Stromproduktion soll flexibler und agiler werden. Sie wird dezentral in den Kommunen und Regionen aufgebaut. "Wir brauchen mehr Speicherlösungen. Der Strom sollte dort verbraucht werden, wo er auch erzeugt wird", fordert Ralf Waldmann. Die zukünftigen Netze müssen digital gesteuert werden. Denn wenn noch mehr Strom aus Solar- und Windanlagen ins Netz eingespeist wird, wird die Digitalisierung ein wichtiger Schlüsselpunkt für die Energiewende. Die Krise habe eines gezeigt: Es gibt endlich einen großen Rückhalt in der Bevölkerung für den Ausbau der erneuerbaren Energien. "Durch die Krise haben alle verstanden, dass wir ein kostengünstiges Energiesystem mit eigenen Mitteln aufbauen müssen", ist sich Waldmann sicher.

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Dieses Thema im Programm:

Schleswig-Holstein Magazin | 25.10.2022 | 19:30 Uhr

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