Politisch kriminell? Bad Nenndorfer irritiert über Polizeivermerk

Stand: 23.02.2023 20:48 Uhr

"Bad Nenndorf ist bunt" fand mit fantasievollen Protesten gegen Neonazi-Aufmärsche bundesweit Beachtung. Dennoch werden Vertreter der Initiative in einer Datenbank der Polizei geführt. Das sorgt für Kritik.

von Angelika Henkel und Stefan Schölermann

Nach jahrelangem Engagement wollten die Bad Nenndorfer Sigrid Bade und Jürgen Uebel wissen, was die Polizei über sie gespeichert hat. Als sie das Ergebnis ausgedruckt in den Händen halten, sind sie überrascht: Sie finden bei ihren Einträgen in der zentralen Datenbank der niedersächsischen Polizei die Kürzel für "politisch motivierte Kriminalität", PMK. Einen Skandal nennt das einer der Betroffenen, der Apotheker Jürgen Uebel, der die Bürgerinitiative gegründet hat und 2018 dafür das Bundesverdienstkreuz bekam.

Gründer von "Bad Nenndorf ist bunt" irritiert von Datenbankeintrag

Die Dokumente liegen dem NDR vor: Einmal ist Jürgen Uebel als tatverdächtig eingetragen, Plakate für ein Kulturfest im Kurpark aufgehängt und somit eine angebliche Sachbeschädigung begangen zu haben. Zu diesen Ermittlungen sei er nicht einmal angehört worden, sagt Jürgen Uebel. 2014 soll er trotz Anweisung der Polizei Musik am Rande einer Demonstration nicht leiser gedreht haben, eine Veranstaltung, für die er verantwortlich gewesen sein soll. Beides irritiert ihn – denn "politisch motivierte Kriminalität" lässt an Gewalttäter und Terroristen denken - nicht aber an ungeprüfte Verdachtsmomente, die dann für viele Jahre im Polizeisystem verbleiben. "Das ist doch unglaublich", sagt Jürgen Uebel dem NDR. "Auf der einen Seite lobt der Staat unser Engagement, auf der anderen Seite stigmatisiert uns der Staat in seiner Kriminalitätsstatistik."

Bundesverdienstkreuz für die Initiative 2018

Am 22. Mai 2018 überreichte ihm Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier in Berlin das Bundesverdienstkreuz stellvertretend für die vielen Beteiligten von "Bad Nenndorf ist bunt" mit den Worten: "Wir brauchen Menschen, die nicht wegschauen, wenn mit täglichem Hass und Wut gegen Minderheiten die Grundlage der Demokratie attackiert wird, sondern diejenigen, die sich Rassisten entgegenstellen - mutig, kreativ, aber friedlich." Zehn Jahre lang, immer am ersten Augustwochenende, war Bad Nenndorf ein willkürlich gewählter Ort für Aufmärsche von Neonazis. Die Treffen in der Kurstadt galten zeitweise als eines der bundesweit wichtigsten Treffen der rechtsextremen Szene, in einem Jahr kamen mehr als 1.000 Anhänger.

Bad Nenndorfer wehrten sich fantasievoll gegen Neonazi-Aufmärsche

Jürgen Uebel und andere wehrten sich mit ungewöhnlichen Mitteln: mit lauten Partys entlang der rechten Aufmarschstrecke, lustiger Musik und Fröhlichkeit.  Mit dieser "Begleitmusik" für den rechten Aufmarsch sorgten die Bad Nenndorfer nachhaltig für schlechte Laune im braunen Lager. Lautstark, bunt und konsequent friedlich - aber erfolgreich: 2016 hatten die "Trauermarschierer" offenbar keine Lust mehr, sich von Tausenden Menschen veralbern zu lassen. Niemand von ihnen erschien an diesem ersten Augustwochenende in Bad Nenndorf. Der rechte Spuk war vorbei.

Datenbankeintrag wegen Sitzstreiks

Auch Sigrid Bade vom örtlichen Sportverein gehörte zu den Engagierten der ersten Stunde, obwohl sie bis dahin noch nie in ihrem Leben demonstriert hatte. Die heute 72-Jährige hat ebenfalls den Eintrag "politisch motivierte Kriminalität". Sie habe gegen "Versammlungsgesetze des Bundes" verstoßen, heißt es im polizeilichen Vorgangs-System Nivadis. Tatsächlich hatte sich Sigrid Bade 2013 mit vielen anderen Menschen zu einem Sitzstreik entschlossen, um den Aufzug der Neonazis zu verzögern. Daraufhin ermittelte die Staatsanwaltschaft, stellte das Verfahren aber wieder ein. Ein Gericht hat nicht darüber entschieden. Dennoch steht der Eintrag als "politisch motivierte Kriminalität" zehn Jahre bis 2024 in den Akten. Ein Unding, wie sie meint: "Ich bin eine unbescholtene Bürgerin und werde in einen Kreis reingezogen, wo sich ganz andere Leute befinden als eine einfache Sportlerin aus Bad Nenndorf, wie ich es bin. So habe ich das Gefühl, mit wirklich Kriminellen gleichgestellt zu werden." Sigrid Bade und Jürgen Uebel wollen juristisch gegen die Einträge vorgehen und verlangen die sofortige Löschung, weil sie sich kriminalisiert und verunglimpft fühlen.

Landespolizeipräsident wehrt sich gegen Kritik

Niedersachsens Landespolizeipräsident Axel Brockmann weist die Kritik zurück. Auf NDR-Nachfrage sagte er, es gebe keinen Grund von der bisherigen Praxis abzuweichen. Zur Begründung verwies er darauf, dass die entsprechenden Einträge nicht jedem Polizisten Niedersachsens, sondern nur einem klar definierten Personenkreis zugänglich seien. Die Erfassung diene der Dokumentation polizeilichen Handelns, eingetragen werde strafbares Verhalten ungeachtet dessen, ob sich die Verdachtsmomente am Ende bestätigen oder nicht. Dies geschehe nach bundesweit einheitlichen Regeln. "Wir haben die Speicherungen in diesen Fällen noch einmal geprüft und sind der Überzeugung, dass da keine Fehler gemacht wurden." Anlass der Nachfrage der Bad Nenndorfer war eine Klage der Journalistin Andrea Röpke. Sie hatte vor Gericht die Löschung von Einträgen des Landeskriminalamtes erwirkt, in dem auch sie der "politisch motivierten Kriminalität" zugerechnet worden war. 

Rechtspolitischer Sprecher der Grünen zur Berichterstattung

Auf diesen NDR-Bericht hat am Freitagnachmittag der rechtspolitische Sprecher der Grünen Bundestagfraktion und Sprecher der niedersächsischen Landesgruppe, Helge Limburg, reagiert. Er merkte an, die Datenspeicherungen der Polizei im Umfeld des Engagements gegen den Neonaziaufmarsch seien offenbar nicht mehr gerechtfertigt. Die Polizei sollte es nicht auf einen Rechtsstreit ankommen lassen, sondern die Daten sofort löschen. Niemand könne ernsthaft behaupten, dass von diesen Menschen politisch motivierte Straftaten zu befürchten seien. "Eine weitere Speicherung könnte abschreckend für zivilgesellschaftliches Engagement wirken", sagte Limburg.

Dieses Thema im Programm:

Hallo Niedersachsen | 23.02.2023 | 19:30 Uhr

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Rechtsextremismus

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