Eine Frau liegt im Bett und greift sich an den Kopf. Sie sieht erschöpft aus. © Colourbox Foto: -

PostVac-Syndrom: Sehr seltene Nebenwirkung der Covid-19-Impfung

Stand: 12.05.2022 06:55 Uhr

In sehr seltenen Fällen kann eine Impfung Symptome auslösen, die dem Long-Covid-Krankheitsbild nach einer Infektion ähneln. Die genaue Ursache ist noch unklar. Betroffene finden Hilfe in Spezialambulanzen.

von Yasmin Appelhans

Im Garten ihres Elternhauses merkt Sarah Oltmanns das erste Mal, dass etwas nicht stimmt. Es ist ein warmer Sommertag im letzten Jahr. Sonst kümmert sie sich regelmäßig bis in den späten Abend um die Gartenarbeit. Jetzt ist sie nicht in der Lage, einfachste Tätigkeiten zu verrichten: "Ich habe es nicht mehr geschafft, den Rasenmäher zu bedienen", sagt sie.

Zeitlicher Zusammenhang mit Impfung

Zunächst glaubt Sarah Oltmanns an eine Überlastung. Sie ist Radiopastorin und auch aus dem NDR bekannt. Schon länger ist sie gestresst und fühlt sich urlaubsreif. Es folgen aber immer mehr Beschwerden, die sie nicht einordnen kann. Sie kann nur ein paar Stunden am Stück wach bleiben, dann muss sie schlafen oder sich ausruhen. Sie kann nur noch verschwommen sehen. Sie räumt sauberes Geschirr aus dem Geschirrspüler in den Kühlschrank oder zieht sich zum Schlafengehen Sportzeug mit Joggingschuhen an. Sie hat Bluthochdruck, Schilddrüsenprobleme, massive Konzentrationsprobleme und eine Reihe anderer Auffälligkeiten.

Eine Blut-Untersuchung zeigt: Auch wenn die Symptome denen eines Post-Covid-Syndroms ähneln, die Erkrankung hat sie offenbar nicht durchgemacht. Serologische Tests können die Antikörper einer Impfung von denen nach einer Infektion unterscheiden. Dass es bei ihren Beschwerden auch einen Zusammenhang mit der Covid-Impfung geben kann, darauf bringt sie erst ein Besuch bei einem Neurologen. Denn ihre Symptome treten zum ersten Mal wenige Tage nach ihrer zweiten Covid-19-Impfung auf.

Nebenwirkung sehr, sehr selten

Die Impfungen gegen Covid-19 sind mittlerweile sehr gut erforscht. Die allermeisten Menschen vertragen sie gut, Komplikationen sind äußerst selten. Dazu gehören die sehr selten auftretenden Herzmuskelentzündungen bei jungen Männern. Doch mittlerweile melden sich bei Ärztinnen und Ärzten auch Menschen, die nach einer Impfung über Zustände wie bei dem, im allgemeinen Sprachgebrauch Long-Covid genannten, Post-Covid-Syndrom klagen.

Von dem sogenannten PostVac-Syndrom berichtet auch Christiana Franke in einer Sonderfolge des Podcasts Coronavirus-Update von NDR Info. Franke ist Oberärztin für Neurologie an der Charité und leitet dort die neurologische Post-Covid-Ambulanz: "Das ist tatsächlich etwas, was uns so seit dem Herbst letzten Jahres doch vermehrt begegnet", sagt sie.  

Manchmal zeigt die Untersuchung, dass hinter den Symptomen vorher unbekannte Erkrankungen stecken. Eine Hirnhautentzündung zum Beispiel. Oder vorher nicht bekannte Autoimmunerkrankungen, wie Multiple Sklerose. Sie können auch durch Infektionen oder Impfungen getriggert, also überhaupt erst richtig angefacht werden. Auch dass sich manche unbemerkt fast gleichzeitig mit der Impfung infiziert haben, kommt vor. Dennoch gibt es auch Betroffene, bei denen sich keine andere Erkrankung als Ursache finden lässt

Insgesamt ist diese Art der Nebenwirkung der Impfung allerdings sehr selten. Dem Paul-Ehrlich-Institut,  das in Deutschland dafür verantwortlich ist, Impfnebenwirkungen zu erfassen, wurden bisher sehr wenige Fälle gemeldet. Dessen Präsident Klaus Cichutek berichtet gegenüber dem NDR, dass auf 172 Millionen in Deutschland verabreichte Impfdosen bisher nur 136 gemeldete Fälle des PostVac-Syndroms kommen: "Ein Risiko-Signal ergibt sich nach dem, was wir an Prüfungen vornehmen, nicht", sagt er. Es gebe also bisher keinen Anlass, die Impfung aufgrund der sehr wenigen gemeldeten Fälle nicht zu empfehlen. Das Paul-Ehrlich-Institut sei aber weiter bestrebt, das Phänomen zu untersuchen, so Cichutek.

Da diese Fälle nicht immer gemeldet werden, könnte die Zahl insgesamt etwas höher sein. Bernhard Schieffer, Leiter der Spezialambulanz für das PostVac-Syndrom in Marburg schätzt den Anteil im Deutschen Ärzteblatt dennoch nur auf unter 0,02 Prozent der Geimpften ein. Zum Vergleich: Der Prozentsatz der Menschen, die lange nach einer Covid-Infektion noch Symptome zeigen, wird auf ungefähr zehn Prozent geschätzt. Er ist also etwa 500-mal so hoch.

Ursache unbekannt

Was genau das PostVac-Syndrom wirklich auslösen kann, ist noch unklar. Das Thema ist, ähnlich wie bei den Langzeitbeschwerden nach der Infektion, fachlich sehr umstritten. Die Auslöser sind aber vermutlich in beiden Fällen dieselben. Manche Forschende machen eine vorherige Infektion mit dem Epstein-Barr-Virus oder Hepatitis E als Ursache aus, die durch Infektion oder Impfung reaktiviert worden sein könnte. Andere denken, die Symptome werden durch geschädigte Gefäße hervorgerufen. Wieder andere vermuten dahinter eine rein psychosomatische Erkrankung.

Studien zu den genauen Auslösern des Phänomens sind zwar weltweit geplant oder auch schon angelaufen, aber verlässliche Daten fehlen noch. Das Paul-Ehrlich-Institut plant beispielsweise derzeit eine Studie mit der Medizinischen Hochschule Hannover , in dem den beiden Phänomenen Post-Covid und PostVac auf den Grund gegangen werden soll.

Womöglich gibt es für die Symptome sogar mehr als einen Auslöser, erklärt Tanja Lange. Sie ist Professorin für Psycho-Neuro-Immunologie an der Universitätsklinik Schleswig-Holstein, Campus Lübeck. Frühere, reaktivierte Infektionen, Grunderkrankungen, genetische Voraussetzungen und Stress könnten über Jahrzehnte den Nährboden bereiten, so Lange. Dann reichten eine weitere Infektion oder auch eine Impfung aus, um das System aus dem Gleichgewicht zu bringen.

Für die Betroffenen ist diese Situation schwierig. Denn kann nicht glasklar eine Ursache für die Symptome ausgemacht werden, findet eine Behandlung oft gar nicht erst statt. Auch Sarah Oltmanns‘ Hausarzt sieht zunächst das Problem darin, dass sie ihre Beschwerden überhaupt in den zeitlichen Zusammenhang der Impfung bringt. Er hält das für ein Symptom einer psychischen Erkrankung: "Das war schon wirklich eine absurde Erfahrung. Die Idee mit der Impfung hatte ja eigentlich nicht ich, sondern der Neurologe", sagt sie.

Psyche und Immunsystem hängen zusammen

Dabei ist die Trennung von körperlichen und psychischen Auslösern nicht nur bei Post-Covid oder dem PostVac-Syndrom wenig sinnvoll. Denn Psyche und Immunsystem hängen unweigerlich zusammen, sagt auch Tanja Lange: "Wenn ich einen Vortrag halte und Stress habe, also psychosozialer Stress, der eigentlich nichts mit dem Immunsystem zu tun hat, kommen keine Bakterien oder Viren, aber ich sehe eine Immunaktivierung." Im Blut steigt die Zahl der Botenstoffe an, die Entzündungsreaktionen koordinieren und verstärken. Ebenso die weißen Blutkörperchen, die sonst Krankheitserreger abwehren.

Das habe sich durch evolutionäre Prozesse so ergeben, sagt Lange: "Wenn wir vom Löwen davongerannt sind, war die Verletzung recht wahrscheinlich und wenn eine Verletzung da war, kamen die Bakterien. Wenn der Löwe uns nicht umgebracht hat, sind wir dann nach einer Infektion gestorben", sagt sie. Streng genommen geht es also um eine vorauseilende, vorsorgliche Reaktion des Körpers.

Die Symptome werden chronisch

Und auch andersherum kann die Psyche auf das Immunsystem reagieren, erklärt die Forscherin. Denn nach einer Infektion oder auch einer Impfung zeigten sich bei vielen Menschen Symptome, die denen einer klassischen psychischen Erkrankung, wie einer Depression ähnelten. Sie würden müde, zögen sich zurück und hätten Schmerzen: "Man möchte nicht mehr essen, nicht mehr trinken, man möchte sich eigentlich nur noch hinlegen und schlafen und Ruhe haben", sagt Tanja Lange.

Das sei eine sehr sinnvolle Antwort des Gehirns, meint sie. So könne Energie gespart werden, die das Immunsystem braucht: "Und gleichzeitig schützt man vielleicht auch seine Umgebung, weil man nicht krank umherläuft und alle möglichen Leute ansteckt", sagt Lange.

Diese Erscheinungen klingen normalerweise nach ein paar Tagen ab. In einigen wenigen Fällen allerdings nicht: Körper und Psyche geraten aus der Balance. Der Zustand wird chronisch. Solche Symptome treten nicht nur nach einer Covid-Erkrankung oder in sehr seltenen Fällen eben auch nach der Impfung auf. Chronische Erschöpfung zum Beispiel entwickeln manche Menschen auch nach anderen viralen Infekten, Krebs- oder Autoimmunerkrankungen oder nach einem erlittenen psychischen Trauma.

Bestimmung von Autoantikörpern allein hat wenig Aussagekraft

Um nachzuweisen, dass in ihrem Fall tatsächlich die Impfung Auslöser ihrer Beschwerden war, lassen manche Betroffene für viel Geld bestimmte, sogenannte Autoantikörper untersuchen. Das sind Antikörper, die sich gegen das eigene Immunsystem richten. Denn laut einer Theorie könnten auch sie Auslöser von Post-Covid und PostVac-Symptomen sein.

Diese Labortestungen in manchmal nicht einmal zertifizierten Laboren haben allerdings eine beschränkte Aussagekraft, sagt Tanja Lange von der Uniklinik Lübeck. Denn Studien, die einen direkten Zusammenhang zwischen Autoantikörpern und Symptomen herstellen, fehlen. Wie häufig und in welchem Ausmaß solche Autoantikörper auch bei geimpften Menschen ohne Symptome vorkommen etwa, ist gar nicht genau bekannt.

Manchmal gebe es auch ganz andere Ursachen dafür, dass Autoantikörper erhöht seien. Da müsse man vorsichtig und individuell von Fall zu Fall untersuchen, was ein eventuell erhöhter Wert wirklich aussagt. "Generell wäre ich skeptisch, in irgendein Labor eine Probe zu geben, wo ich es bezahlen muss. Ich habe den Eindruck, dass da viele gerade viel Geld verdienen mit dem Leid der Menschen", sagt Lange. Lieber sollten Betroffene versuchen, sich im Rahmen von wissenschaftlichen Studien untersuchen zu lassen.

Therapien der Symptome

Einige Studien untersuchen derzeit, ob die Autoantikörper auch einen Ansatz zur Behandlung von Post-Covid-Symptomen darstellen. Die Hoffnung ist, dass die Symptome verschwinden oder sich wenigstens erheblich bessern, wenn bestimmte Autoantikörper aus dem Blut entfernt werden. Oder dass Antikörper aus dem Blut gesunder Menschen Abhilfe schaffen können. Ob dies wirklich funktioniert und ob diese Therapien auch beim PostVac-Symptom wirken, muss sich noch zeigen.

Derzeit kann man das PostVac-Syndrom nur symptomatisch behandeln. Ähnlich wie bei einem Post-Covid orientieren sich die behandelnden Ärztinnen und Ärzte an den Symptomen, die die stärksten Beschwerden verursachen. Sie können Medikamente geben, die Schmerzen lindern, die Entzündungsreaktionen stoppen oder den Schlaf verbessern können. Denn trotz eines großen Schlafbedürfnisses ist die Schlafqualität bei vielen Betroffenen nicht ausreichend.  

Oft helfen auch Therapien, die aus dem Bereich der Psychosomatik stammen. Das sogenannte Pacing zum Beispiel. Das ist eine Methode, bei der die Patientinnen und Patienten gezielt weniger leisten, als die Kraft gerade erlauben würde. Dadurch kann ein großer Zusammenbruch nach einer Anstrengung häufig verhindert werden. Auch klassische Methoden zur Stressreduktion können manche Menschen bei der Bewältigung unterstützen. Denn die dadurch ausgeschütteten Botenstoffe können helfen, Körper und Geist wieder ins Gleichgewicht zu bringen.

Lange Wartelisten

Zwei offizielle Anlaufstellen stehen Betroffenen derzeit zur Verfügung. Die Spezialambulanz Post-Covid am Universitätsklinikum Marburg und die neurologische Post-Covid-Ambulanz an der Charité in Berlin behandeln auch Menschen mit Verdacht auf PostVac-Syndrom. Die Wartelisten sind allerdings lang. Mehr als 1.800 Patientinnen und Patienten stünden derzeit in Marburg auf der Warteliste, sagte Berhard Schieffer dem Deutschen Ärzteblatt.

Sarah Oltmanns lässt sich von ihrem Hausarzt, einem Neurologen sowie einer Immunologin und Rheumatologin an der Uniklinik Lübeck symptomatisch behandeln. Ihr Zustand hat sich durch die Therapie schon leicht verbessert. Inzwischen konnte sie die Zeit, in der sie aktiv sein kann und sich nicht hinlegen muss, von drei bis vier auf acht Stunden steigern. Dennoch hofft sie darauf, auch einen Termin in Marburg oder der Charité zu ergattern und auch an einer der derzeit laufenden Studien teilnehmen zu können. Sie hofft, Antworten darauf zu bekommen, was ihren Zustand verursacht. Und: ihre Lebenssituation verbessern zu können. "Das ist schon ernüchternd, wenn man weiß: Früher hat man Ausflüge gemacht und sich mit Leuten getroffen. Das kann ich so nicht mehr machen", sagt sie.

Unbedingt trotzdem impfen lassen

Trotz ihrer Erfahrung hat sich die Pastorin boostern lassen. Kurzzeitig kamen neue Symptome dazu, insgesamt hat sich ihr Zustand dadurch aber nicht weiter verschlechtert. Auch Freundinnen rät sie beispielsweise, ihre Kinder impfen zu lassen. Eine Impfgegnerin ist sie nicht geworden.

Und auch die Forscherin Tanja Lange warnt davor, sich wegen der seltenen Fälle des Post-Vac-Syndroms nicht impfen zu lassen. Auch wenn es bisher keine validen Studien dazu gibt, hält sie es für wahrscheinlich, dass Symptome, die nach einer Impfung aufgetreten sind, auch durch eine Infektion ausgelöst worden wären. Vermutlich sogar in noch stärkerem Maße. Sie hofft, dass das Post-Vac-Syndrom eher als mahnendes Beispiel dient. "Alles, was die Infektion machen kann, kann rein theoretisch auch die Impfung machen. Aber es wird zu einem geringeren Prozentsatz sein. Dadurch, dass man vor Infektionen schützt, vermeidet man Leid", sagt sie.

 

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NDR Info | Wissen | 12.05.2022 | 06:55 Uhr

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Ein Smartphone mit einem eingeblendeten NDR Screenshot (Montage) © Colourbox Foto: Blackzheep

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