Neue Bücher 2024: Die interessantesten Neuerscheinungen
Das Literaturjahr 2024 hat einiges zu bieten: Martina Hefter hat mit "Hey guten Morgen, wie geht es dir?" den Deutschen Buchpreis gewonnen. Die junge Rostocker Autorin Caroline Wahl hat ihr fulminantes Debüt "22 Bahnen" mit dem Roman "Windstärke 17" fortgesetzt. Außerdem gibt es Neues von Frank Schätzing, Markus Thielemann, Isabel Bogdan oder Lucy Fricke.
Martina Hefter hat bereits im August für ihr lyrisches Gesamtwerk und mit besonderer Hervorhebung ihres jüngsten Romans "Hey guten Morgen, wie geht es dir?" den Großen Preis des Deutschen Literaturfonds erhalten. Im Oktober folgte dann der Deutsche Buchpreis. Dana von Suffrin und Alina Herbing sorgten bereits mit ihren Debütromanen "Otto" und "Niemand ist bei den Kälbern" für viel Aufsehen im Literaturbetrieb. Es folgte jeweils eine lange Schaffenspause. Sieben Jahre nach ihrem Debütroman legt Alina Herbing nun ihr zweites Buch "Tiere, vor denen man Angst haben muss" vor, Dana von Suffrin vier Jahre nach "Otto" den Roman "Nochmal von vorne". Deutlich kürzer ist die Wartezeit bei Caroline Wahl. Nach ihrem fulminanten Debüt "22 Bahnen" im vergangenen Jahr erzählt sie in "Windstärke 17" die Geschichte der beiden Schwestern Tilda und Ida weiter. Und auch der internationale Buchmarkt hat einiges zu bieten: Unter anderem erscheint mit "Zuleika" ein neues Buch der Booker-Preisträgerin Bernardine Evaristo, den in den USA gefeierten Roman "Demon Copperhead" von Barbara Kingsolver gibt es nun in deutscher Übersetzung, und auch Tom Rachman ("Die Unperfekten") legt wieder eine neue Erzählung vor.
Heinz Strunk: "Zauberberg 2"
Mit seinem neuen Roman begibt sich Erfolgsautor Heinz Strunk in eine gewagte Konkurrenz zum Nobelpreisträger Thomas Mann und dessen zum Klassiker gewordenen "Zauberberg". Strunks Protagonist ist der Hamburger Jonas Heitbrink. Er leidet an einer Angststörung und an Depressionen. In einer norddeutschen Klinik, in der seine Krankheit behandelt wird, drängen sich ihm existenzielle Fragen nach dem Sinn des Lebens auf. Seine wichtigste Frage: Worin finde ich Trost? Einmal mehr verneigt sich Heinz Strunk vor seinem unerreichbaren Vorbild Thomas Mann. Mit Demut und Selbstbewusstsein und vor allem mit Humor.
Samantha Harvey: "Umlaufbahnen"
Gerade erst wurde die 1975 geborene Samantha Harvey mit dem wichtigsten britischen Literaturpreis ausgezeichnet, für ein Buch, das im All spielt. Auf einer Raumstation 400 Kilometer über der Erde arbeiten und leben sechs Astronauten. Alles gerät hier ins Schweben - auch der Roman. Eine Handlung gibt es in diesem Buch nicht, nur den Blick in die Köpfe und die Gedanken der Protagonisten, ihren Blick auf die Erde, auch auf sich anbahnenden Katastrophen. "Umlaufbahnen" ist keine philosophische Schrift, der Roman erzählt auch von dem Alltag auf der Raumstation - sehr unpathetisch und dicht geschrieben. Ein echtes Highlight.
Joachim Meyerhoff: "Man kann auch in die Höhe fallen"
Joachim Meyerhoff ist als Schauspieler an vielen Bühnen beschäftigt. Seine autobiografisch inspirierte Romanreihe begann 2011 mit "Alle Toten fliegen hoch" und verkaufte sich bislang fast drei Millionen Mal. Jetzt ist der sechste Band erschienen und es geht um einen Mann in der Krise. Sein Alltag ist eine einzige Strapaze, deshalb flieht er zu seiner Mutter nach Schleswig-Holstein. Und diese Mutter möchte man als Leser*in unbedingt kennenlernen: lebenslustig und kerngesund. Dieses Buch ist offener in der Form als die Vorgänger und es dauert eine Weile bis das Buch Fahrt aufnimmt, aber dann ist wieder da: der typische "Meyerhoff-Sound": leichtfüßig, melancholisch und selbstironisch.
Lucy Fricke: "Das Fest"
Jakobs Leben ist schon länger in Unordnung. Er pendelt zwischen Selbstmitleid, Weltdepression und Desinteresse. Und jetzt wird er auch noch 50. Der 1974 in Hamburg geborenen Autorin Lucy Fricke ist ein wunderbarer Roman gelungen: witzig, leichtfüßig, tiefernst und voller Liebe.
Komik und Tragik liegen in diesem schmalen Roman so eng nebeneinander wie sonst vielleicht nur im Leben. Die Autorin fängt die Melancholie geschickt auf und nach und nach gewinnt Jakob ein Stück Leben und damit Lebendigkeit zurück.
Martina Hefter: "Hey guten Morgen, wie geht es dir?"
Martina Hefter verarbeitet in ihrem autofiktionalen Buch viel von ihrem eigenen Leben, in dem Tanz und Performance eine große Rolle spielen. Mit "Hey guten Morgen, wie geht es Dir?" hat die Autorin den Deutschen Buchpreis 2024 gewonnen. Es ist ein zeitgemäßer Text für das Instagram-Zeitalter. Und zugleich liegt diesem Roman eines der ältesten Erzählmuster überhaupt zugrunde, allerdings auf ganz neue Weise interpretiert: die Dreiecksgeschichte. Eine Frau zwischen zwei Männern, was hier heißt: zwischen dem fernen Scammer und dem nahen Sklerotiker. Hefter entwickelt den Text als eine Art Performance - als Tanz der Themen und Motive, mit Anmut, Würde und Humor auch in den heiklen Momenten. Man ist gefesselt von dieser eigenwillig welthaltigen Autofiktion bis zur letzten Seite.
Frank Schätzing: "Helden"
1995 erschien der erste Roman von Frank Schätzing: "Tod und Teufel". Er spielte im Köln des Mittelalters. Hauptperson: Jakob, der "rote Fuchs". Jakob spielt auch in dieser Fortsetzung die Hauptrolle, allerdings verlässt er Köln in Richtung London. Er ist kein Dieb mehr, sondern bildet sich, studiert und träumt vom großen sozialen Aufstieg. Mitte des 13. Jahrhunderts scheint die Welt aus den Fugen geraten zu sein: Die Kirche verliert langsam an Macht, Kaufleute erschließen sich neue Märkte durch den Kreditbrief.
Frank Schätzing hat die historischen Quellen gründlich studiert und Leser*innen können eintauchen in die faszinierende Welt des Mittelalters - "Helden" ist unterhaltsam und interessant, auch wenn das Buch über 1.000 Seiten hat.
Volker Kutscher: "Rath"
Mit seinem Roman "Der nasse Fisch" rund um Kriminalkommissar Gereon Rath begann 2007 alles. Inzwischen erschien eine Fernsehserie namens "Babylon Berlin", Hörspiele und neun weitere Krimis. Volker Kutscher hat akribisch recherchiert, seine Plots sind spannend und stimmig. Das ist auch bei "Rath" wieder so.
Im zehnten Band der Reihe kehrt Gereon Rath nach Deutschland zurück und lebt unter falschem Namen in Köln. Schnell will er mit seiner Frau Charly in die USA. Doch Charly will Deutschland nicht ohne ihren ehemaligen Pflegesohn Fritz verlassen - und der ist verschwunden und steht unter Mordverdacht.
"Rath" ist kein herkömmlicher Krimi. Immer verhandelt Volker Kutscher auch die historischen Umstände mit - und das macht diese Reihe sehr lesenswert.
Isabel Bogdan: "Wohnverwandtschaften"
Constanze hat sich von ihrem Partner getrennt und zieht in die WG von Jörg, Anke und Murat. Alle Mitbewohner sind um die 50 und haben ihr Päckchen zu tragen. Doch schnell wachsen die vier zu einer Gemeinschaft zusammen - vielleicht ein bisschen zu sehr. Doch dann wird Jörg, der Älteste, der eigentlich gerade noch mit seinem Bulli nach Georgien reisen wollte, immer schusseliger. Demenz! Wie die Zweck-WG mit der Diagnose und dem kranken Jörg umgeht, beschreibt Isabel Bogdan - wechselnd aus verschiedenen Perspektiven. Im Ton ist das immer leicht erzählt, doch die Handlung geht unter die Haut. Ein Buch, das in die Zeit passt.
Sally Rooney: "Intermezzo"
Unter Millenials ist Sally Rooney eine angesagte Autorin, eine prägende Stimme. Jetzt hat die 33-jährige Irin ihren vierten Roman vorgelegt. Sie erzählt darin die Geschichte der Brüder Ivan und Peter Koubek, die kürzlich ihren Vater verloren haben. Doch die Trauer verbindet die beiden nicht, sondern vertieft eher alte Konflikte. Ivan tingelt als spätes Schachwunderkind durch Irland und verliebt sich in eine ältere Frau. Und Peter betäubt sich mit Drogen und Alkohol, außerdem kann er sich nicht zwischen zwei Frauen entscheiden.
"Intermezzo" ist kein handlungsgetriebener Roman. Es wird viel geredet, philosophiert. Das ermüdet beim Lesen manchmal. Sally Rooney kann wortgewaltig und intelligent erzählen - der Schluss dieses Buchs ist ihr aber gründlich misslungen.
Frank Schulz: "Amor gegen Goliath"
Frank Schulz ist ein echtes Nordlicht: Bei Stade geboren, lange in Hamburg beheimatet, lebt der Schriftsteller inzwischen in Osnabrück. Lange war von ihm nichts mehr zu hören beziehungsweise zu lesen. Doch jetzt ist sein 750 Seiten starker Roman "Amor gegen Goliath" erschienen. Es geht um den Klimawandel, zwei Männer, eine Frau - und die Liebe. Der Inhalt des Romans ist allerdings kaum nachzuerzählen. Der eigentliche Protagonist dieses Buchs ist die Sprache von Frank Schulz, mit der er tanzt, spielt, Schabernack treibt und Trost spendet.
Patricia Hempel: "Verlassene Nester"
Pilly lebt in einem Ort, dessen Industrie nach der Wende ganz unsentimental abgewickelt wird. Auch ihre Familie ist zerfallen, der Vater trinkt, die Mutter ist weg. Das introvertierte Mädchen verbringt viel Zeit mit der selbstbewussten Katja, in die es sich verliebt. Während Pilly eine Ich-Erzählerin ist, werden die anderen Figuren von einem allwissenden Erzähler beschrieben. Sie bewegt vor allem das, was sie als Bedeutungsverlust ihrer Gemeinschaft wahrnehmen. Das gibt dem Roman von Patricia Hempel eine aktuelle Relevanz, denn in Thüringen und Sachsen hat man gerade gesehen, dass Unzufriedenheit und ein gefühlter Bedeutungsverlust Menschen an politische Ränder treibt. Die Autorin beschreibt gewaltige Umwälzungen in der Gesellschaft, parallel zu den persönlichen ihrer Heldin Pilly. So gelingt ihr ein umfassendes Panorama von Menschen, die zutiefst verunsichert sind. Das ist sehr empathisch beschrieben, in klarer Sprache und hochunterhaltsam.
Jackie Thomae: "Glück"
Zwei beruflich sehr erfolgreiche Frauen hadern mit ihrer Kinderlosigkeit. Davon erzählt Jackie Thomae in ihrem neuen Roman und trifft dabei einen Nerv, der in unserer Gegenwart sehr offen zu Tage liegt. Mit ihrem feinen Gespür für psychologische Tiefe und der Fähigkeit, Drama und Humor miteinander zu verknüpfen, nimmt die Autorin ihre Leserschaft mit auf eine erstaunliche Erkenntnisreise.
Katja Lange-Müller: "Unser Ole"
Drei Frauen, die allesamt eines gemeinsamen haben: Sie wurden von ihren Müttern nicht geliebt. Und dass es ihnen selbst nicht leicht fällt, Liebe an ihre Kinder weiterzugeben, zeigt sich auch im Umgang mit Ole, der die drei Frauen aber miteinander verbindet.
Drama und Burleske - bei Katja Lange-Müller geht das gut zusammen. Mit ihrer ganz eigenen Sprache bringt sie das Thema Mutterliebe mit all seinen Schattenseiten zum Leuchten.
Clemens Meyer: "Die Projektoren"
Wann auch immer Gefahr ist, wächst das Rettende auch, heißt es bei Hölderlin. Clemens Meyer antwortet mit einem 1.000-Seiten-Buch auf die Krisen unserer Gegenwart und hält ihnen seine Erzählkunst entgegen. Was Winnetou mit dem Jugoslawienkrieg zu tun hat, was Rechtsradikale mit der Psychatrie und was ein gewisser Dr. May zur Lösung all der vielen Rätsel beitragen kann? Erwarten Sie nicht unbedingt Antworten auf diese und noch mehr Fragen, aber lassen sie sich hineinziehen in den kraftvollen Erzählstrudel dieses ganz zu Recht für den Deutschen Buchpreis nominierten Romans.
Daniela Krien: "Mein drittes Leben"
Daniela Krien schreibt in ihrem Roman "Mein drittes Leben" über eine Frau, deren einzige Tochter stirbt. Die Trauer ist übermächtig. Die Autorin erzählt die Geschichte aus der Perspektive von Linda: Sie ist die Ich-Erzählerin, die lieber sterben als leben möchte. Nur einmal steht sie neben sich, sie rutscht in die dritte Person, als Richard ihr von einer neuen Frau erzählt, einer Schriftstellerin, die ihn aus der Einsamkeit befreit. Linda verstummt. Nur eine Bekannte findet noch Zugang zu ihr. Der Roman steht auf der Longlist zum Deutschen Buchpreis.
Andreas Moster: "Der Silberriese"
Im neuen Roman des Hamburger Autors Andreas Moster geht es um eine Vater-Tochter-Beziehung, um Kontrollbedürfnisse und -verluste und um olympischen Ehrgeiz, in einer Disziplin der Weltbeste sein zu wollen und die Grenzerfahrung, die sich anschließend im realen Leben einstellen kann. "Der Silberriese" erzählt vom Licht des großen Erfolgs und wie es droht, alles Nachfolgende in den Schatten zu stellen. Präzise und unterhaltsam zugleich.
Elif Shafak: "Am Himmel die Flüsse"
Wie sich Literatur mit dem Element Wasser vermählen kann, wie auch Buchstaben ihren Aggregatszustand verändern können, das zeigt uns die britisch-türkische Schriftstellerin Elif Shafak in ihrem neuen Roman "Am Himmel die Flüsse". Elegant und mit überschäumender Fantasie führt sie uns dabei zum Gilgamesh-Epos, in die berühmte Bibliothek der antiken Stadt Ninive, aber auch in die Zeit des Völkermords an den Jesiden. Ein großartiges Buch über Traumata und die Möglichkeiten, sie zu transformieren.
Laura Spence-Ash: "Und dahinter das Meer"
Beatrice kommt 1940 aus dem kriegsgebeutelten London nach Boston. Familie Gregory nimmt sie liebevoll auf und will mit ihr auf eine Ferieninsel in Maine. Die Eltern von Bea haben lange mit sich gerungen, ob es wirklich das Beste für ihre Tochter ist, sie während des Krieges zu einer völlig fremden Familie in Amerika zu geben. Pflegemutter Nancy - Mutter von zwei Söhnen - genießt es, plötzlich eine kleine Tochter zu haben. Die beiden Jungen William und Gerald bringen ihr Schwimmen bei und überhaupt ist die ganze Familie verliebt in dieses schüchterne, zurückhaltende und kluge Mädchen. Sie verändert die gesamte Stimmung in der Familie Gregory. Unterdessen kämpft die leibliche Mutter mit ihrer Eifersucht auf Nancy und alle, die jetzt mit ihrer Tochter glückliche Stunden verleben dürfen.
NDR Buch des Monats Juli: "Von Norden rollt ein Donner" von Markus Thielemann
"Von Norden rollt ein Donner" beginnt wie ein Roman aus dem 19. Jahrhundert, in einer Landschaft, die der junge Autor als "sacht gewellte Ödnis, gefärbt von braun verholztem Kraut und Sand" beschreibt. In Thielemanns Sprache kommt uns die Lüneburger Heide zugleich fremd und vertraut vor, hier, wo die "Sonne hell und wirkungslos" scheint, wo "Böen sterbende Vegetation übers trostlose Braun der Landschaft blasen". Wo der Autor wortkarge Menschen findet und Wörter wie "kernschroff", "Schattenlaub" und "Fettwiesen". Thielemann erzählt eine sehr zeitgemäße Geschichte: vom Wolf, den die ferne Politik ansiedelt, der Schafe reißt, aber nie gesichtet wird. Der, so raunt man im Dorf, seine Brut auf dem nahen Truppenübungsplatz großzieht. Und dann sind da noch die Schatten der Vergangenheit...
"Views" von Marc-Uwe Kling
Marc-Uwe Kling, berühmt durch Geschichten, in denen ein Kleinkünstler mit einem kommunistischen Känguru den Alltag bewältigt, hat sich ein neues Genre erschlossen: sein brutales Thrillerdebüt "Views" ist garantiert nichts für Kinder. Ein Mädchen verschwindet, ein Vergewaltigungsvideo geht auf Social Media viral, die Gewalt schwappt über auf die Straße. Seine Hauptfigur heißt Yasira Saad, Kommissarin im Bundeskriminalamt, libanesische Wurzeln, geschiedene Mutter einer Tochter. "Views" ist, jenseits der notwendigen überraschenden Wendungen im Plot, geradlinig erzählte Unterhaltung mit politischem Bezug und teilweise ziemlich gewaltvollen Szenen. Es lässt sich problemlos ohne Kenntnis des Känguru-Kosmos' lesen.
"1974 - eine deutsche Begegnung" von Ronald Reng
Natürlich stimmt es nicht, dass früher alles besser war. Aber kaum etwas ist so gut wie Geschichten davon, wie der Fußball früher war; das trifft vor allem auf die Bücher des meisterhaften Fußball-Erzählers Ronald Reng zu. In seinem neuen Buch widmet er sich - 50 Jahre danach - dem legendären WM-Spiel zwischen den Mannschaften der Bundesrepublik und der DDR. Zwar soll man die Macht der Literatur nicht überschätzen, aber vielleicht schafft Reng es ja, ein bisschen Lust auf die bevorstehende Europameisterschaft zu wecken.
"Die Hochstapler" von Tom Rachman
Einen letzten Roman möchte Dora Frenhofer noch schreiben. Aber da sie selbst nicht mehr mobil ist, reist sie in ihrer Fantasie. Und schreibt in Episoden über Freunde und Familienangehörige, bis ein Kaleidoskop entsteht. Ein Roman über eine Schriftstellerin, die einen letzten Roman schreiben möchte? Das könnte langweilig sein. Nicht aber, wenn Tom Rachman ihn schreibt, denn Rachman ist ein genauer Beobachter und brillanter Erzähler, wie er in seinem Debüt "Die Unperfekten" unter Beweis gestellt hat.
"Möchte die Witwe angesprochen werden, platziert sie auf dem Grab die Gießkanne mit dem Ausguss nach vorne" von Saša Stanišić
Nach und nach und aufreizend subtil decken die Erzählungen in Saša Stanišićs neuestem Buch auf, dass sie alle irgendwie miteinander zusammenhängen in ihren Figurenkonstellationen, ihren zeitlichen Abläufen zwischen Bosnienkrieg und unmittelbarer Gegenwart, im Experimentieren mit den Proberäumen fürs Leben und sowieso natürlich in der großen Frage, die sich alle hier stellen: Wo komme ich her, wo gehöre ich hin?
Viele schreiben über die Themen Herkunft und Heimat, aber niemand so wie Stanišić: Der Ton, den er in die deutsche Gegenwartsliteratur eingebracht hat, ist einzigartig - ganz ungekünstelt, aber hoch künstlerisch, verspielt und traurig, zart und zupackend. Seine Prosa durchlüftet die Gedanken.
"Der Untergang der Wager" von David Grann
2.000 Männer verlassen 1740 auf sieben Schiffen den englischen Hafen Portsmouth - doch nur wenige kehren nach England zurück. Ein Schiff ist die "Wager", sie zerschellt hunderte Kilometer nach Kap Hoorn an Felsen im Pazifik. Einige Besatzungsmitglieder können sich auf eine Insel retten, sind aber mehr tot als lebendig. Nach entbehrungsreichen Monaten verlassen zwei Boote die Insel - eines strandet in Chile, eines in Brasilien. Und die Schilderungen der Überlebenden könnten unterschiedlicher kaum sein.
Es handelt sich um eine Geschichte, die auf Fakten basiert. David Grann hat ausgeblichene Logbücher studiert, zerschlissene Briefe und Tagebücher gelesen, um zu rekonstruieren, was sich damals zugetragen hat. Sein Buch ist faktenbasierte Spekulation, aber sehr fesselnd. Ein Buch wie eine Naturgewalt!
"Windstärke 17" von Caroline Wahl
Tilda und Ida - die beiden Schwestern aus Caroline Wahls fulminanten Debüt "22 Bahnen" sind Figuren, die man nicht so leicht vergisst. Zum Glück nimmt die in Rostock lebende Autorin den Faden wieder auf und erzählt in "Windstärke 17" ihre Geschichte weiter. Zumindest die von Ida: Einige Jahren sind verstrichen und Ida haut ab. Durch Zufall landet sie auf Rügen, wo sie in Knut und Marianne eine Art "Ersatzfamilie" findet. Caroline Wahl bleibt ihrem Stil treu, erzählt auch in ihrem zweiten Buch konsequent aus der Perspektive ihrer Protagonistin. Aus Alltagsszenen werden schmale Sätze voller Wucht, Schmerz und Witz. Caroline Wahls Roman ist wie eine Netflix-Serie - eine der guten. Mit Sogwirkung und unmittelbaren Dialogen, aufgeschrieben wie in einem Drama.
"Amrum" von Hark Bohm
Am 18. Mai ist der Filmemacher, Drehbuchautor und Schauspieler Hark Bohm 85 Jahre alt geworden. Nun hat er - zusammen mit Philipp Winkler - einen Roman geschrieben: "Amrum" heißt das Buch und führt ins Jahr 1939 zurück. Derzeit wird es von Fatih Akin verfilmt.
Bohm selbst ist zwar in Hamburg geboren, verbrachte seine Kindheit aber auf Amrum. Und auch sein Romanheld Nanning erlebt den Zweiten Weltkrieg auf der Insel. Er hilft einer Bäuerin bei der Arbeit und sichert so das Überleben seiner Familie. Doch als sich zum NS-Ortsgruppenleiter herumspricht, dass die Bäuerin sich "wehrkraftzersetzend" geäußert hat, muss Nanning den Hof verlassen und erfinderisch werden. So wird er früh erwachsen.
"Amrum" ist ein Erinnerungsroman - konsequent aus der Perspektive eines Kindes erzählt - mit wunderschönen Naturbeschreibungen, wehmütig und leicht bitter.
"Wir werden jung sein" von Maxim Leo
Was passiert, wenn der Traum von ewiger Jugend plötzlich ganz leicht erreichbar wäre? Nur mittels Einnahme eines Medikaments? Diese Geschichte erzählt der Autor und Journalist Maxim Leo in seinem Roman "Wir werden jung sein".
Vier herzkranke Menschen, ganz unterschiedlich alt, nehmen an einer Medikamentenstudie teil. Unerwartete Nebenwirkung: Sie verjüngen sich um mehr als zehn Jahre und werden gesünder. Klingt erst einmal schön - doch welche Konsequenzen bringt das mit sich, wenn das Leben immer länger wird. Auch um diese moralischen Fragen dreht sich der Roman, liest sich dabei aber immer süffig, fast wie ein Krimi.
Mit Science-Fiction hat dieses Buch wenig zu tun: Dass es früher oder später eine medizinische Möglichkeit der Verjüngung geben wird, steht für Maxim Leo außer Frage. Die Frage wird nur sein: Wie geht man selbst damit um?
"Das versteinerte Herz" von Abdulrazak Gurnah
Als der tansanisch-britische Schriftsteller Abdulrazak Gurnah 2021 mit dem Literaturnobelpreis ausgezeichnet wurde, rieben sich viele Kritiker*innen die Augen. Denn nur wenige hatten überhaupt schon einmal von diesem Mann gehört. Nach und nach werden seine Bücher nun ins Deutsche übersetzt, wie "Das versteinerte Herz", im Original 2017 erschienen.
In dem Roman erzählt Abdulrazak Gurnah die Geschichte von Salim, der sieben Jahre alt war, als er seine Familie verlassen musste. Sein Onkel Amir nimmt den Jungen mit von Sansibar nach England. Dort angekommen findet sich Salim nur schwer zurecht und ist einsam. Auch das geplante Betriebswirtschaftsstudium macht ihn nicht glücklich. Er hofft schließlich, die Literatur zum Beruf machen zu können. Es gibt also deutliche Parallelen zwischen dem Protagonisten und dem Autor. Der Roman ist mitunter langatmig erzählt, was seine elegant komponierte Geschichte allerdings nicht schlechter macht.
"Wir kommen": Kollektivroman mit Texten von Olga Grjasnowa, Kim de l'Horizon und Ulrike Draesner
Was kommt heraus, wenn ganz unterschiedliche Autor*innen wochenlang gemeinsam in einem Online-Textdokument schreiben? Wenn sie komplett anonym ihre Gedanken zu weiblichem Begehren, Sex und Alter in Worte fassen? 18 Autor*innen tauschen sich in "Wir kommen" gemeinsam über Sexualität und Begehren aus, mit dem Ziel, "verdrängte Facetten weiblicher und queerer Sexualität" sichtbar zu machen. Mit dabei sind auch Promis der Literaturszene wie Ulrike Draesner, Olga Grjasnowa und Kim de l'Horizon. Die Autor*innen befragen, ergänzen, kommentieren die Texte der Anderen. Dabei geht es um die erste sexuelle Erregung und die Frage, ob ich mit faltigem Gesicht noch junge Körper begehren darf. Es geht um Menstruation und Masturbation, um Gewalterfahrungen und Geburtsschmerzen, um Schuld und Scham.
"Pudels Kern" von Rocko Schamoni
Mitte der 1980er-Jahre, nach einer abgeschlossenen Töpferlehre, verlässt ein junger Punk seine schleswig-holsteinische Heimat. Sein Sehnsuchtsort: Hamburg. Hier trifft der Mann, der sich später Rocko Schamoni nennen wird, sowohl obskure Gestalten des St. Pauli-Nachtlebens als auch Künstler, die ihn inspirieren: Von den Goldenen Zitronen über die Einstürzenden Neubauten bis zu Helge Schneider. Und so sucht und findet Schamoni seine Kunst - trotz Ängsten, Selbstzweifeln und Depressionen. Der Roman beschönigt nichts, auch nicht seinen exzessiven Alkoholkonsum. Das ist oft schmerzhaft, manchmal unappetitlich, aber auch extrem unterhaltsam und mitreißend.
"Nochmal von vorne" von Dana von Suffrin
Vor gut vier Jahren hat Dana von Suffrin mit "Otto" - der Geschichte eines unmöglichen, fürchterlichen, wunderbaren Vaters - ein fulminantes Romandebüt hingelegt. Damals wusste die junge Historikerin noch gar nicht, ob sie als Schriftstellerin weitermachen wolle. Was für ein Glück, dass ihre Antwort nun lautet: Ja! Ihr neuer Roman erzählt die Geschichte einer deutsch-jüdischen Familie zwischen München und Tel Aviv und lässt zwischen Rasanz, Komik und Dramatik alles erwarten, was man sich von guter Literatur nur wünschen kann.
"Zuleika" von Bernardine Evaristo
Die Autorin Bernardine Evaristo gewann als erste Schwarze Schriftstellerin den Booker Prize. Nun schreibt sie über Zuleika: ein Schwarzes Mädchen in London - zur Zeit des Römischen Reichs. Zuleika wird im Alter von elf Jahren an einen Römer verkauft. Aber sie ist widerspenstig und geht trotzdem ihren eigenen Weg. Bernardine Evaristo erzählt konsequent und unerschrocken die Geschichten von Frauen - in einem ganz eigenen Stil. Und das gelingt ihr stets aufs Neue - immer eine Entdeckung!
"Der ehrliche Finder" von Lize Spit
Die beiden Jungen Tristan und Jimmy freunden sich trotz oder gerade wegen aller Unterschiede miteinander an. Jimmy, der einsame Nerd, und Tristan, das Flüchtlingskind aus dem Kosovo mit einer großen Familie. Doch gerade als alles gut zu laufen scheint, wird die Freundschaft der beiden Jungen auf eine harte Probe gestellt. "Der ehrliche Finder" ist der dritte Roman der flandrischen Schriftstellerin Lize Spit, deren Debüt "Und es schmilzt" ein Jahr lang auf Platz 1 der belgischen Bestsellerliste stand.
"Der letzte Traum" von Pedro Almodóvar
Eigentlich kennt man Pedro Almodóvar als Filmregisseur. Ausgezeichnet mit vielen Preisen - wie dem Goldenen Löwen oder dem Oscar. Mit 74 Jahren hat er jetzt seinen ersten Erzählband veröffentlicht. Schon die Entstehung des Buchs ist filmreif. Denn Almodóvars Assistentin rettete und archivierte die Erzählungen, einige davon sind schon 50 Jahre alt. Manchmal gibt es Wiedersehen mit Figuren, Konflikten und Fragen aus seinem Schaffen, aber es finden sich auch autobiografische Texte im Buch - wie die stärkste und titelgebende Erzählung "Der letzte Traum". Darin geht es um einen Sohn, der um die verstorbene Mutter trauert. Ein fein-komponiertes Buch, das Selbstporträt und eine Sammlung von Erzählungen gleichzeitig ist.
"Minihorror" von Barbi Marković
Ein Roman im klassischen Sinn ist "Minihorror" nicht, eher eine lose Sammlung von Erzählungen, inklusive Bonus-Material. Barbi Marković erzählt sehr lakonisch mit einem Hang zum absurden Humor. Die beiden Haupt-Protagonisten in diesem Buch heißen Mini und Miki - ein Schelm, wer dabei nicht an die weltberühmten Disney-Mäuse denkt. Und was ihnen im Laufe des Buches so alles passiert, ist auch ziemlich comichaft erzählt. In 26 kurzen Episoden erleben Mini und Miki zum Teil horrorartige Wendungen in ihrem Alltag: Von Doppelgängern ist die Rede, jemand entpuppt sich als Menschenfresser oder das "Kitzelmonster" tritt auf. Ohne dass irgendetwas Konsequenzen hat - zu Beginn der nächsten Geschichte ist alles wieder gut. Für "Minihorror" wurde Barbi Marković mit dem Preis der Leipziger Buchmesse ausgezeichnet.
"Das Jahr ohne Sommer" von Constanze Neumann
In ihrem vorherigen Roman "Wellenflug" hat Constanze Neumann die Herkunftsgeschichte ihrer Familie erzählt. In "Das Jahr ohne Sommer" geht es nun um die Geschichte ihrer Kindheit. Constanze Neumann erzählt von einer schweren Traumatisierung einer ganzen Familie. Ihre Eltern glaubten, eine Möglichkeit gefunden zu haben, die DDR zu verlassen. Ein fataler Irrtum. Die Flucht misslingt, beide Eltern kommen ins Gefängnis. Es sind berührende Liebeserklärungen im Text versteckt, an die Großmutter, den Vater und vor allem die Mutter, die tapfer versucht, sich aus dem Geflecht aus Scham und Schuldgefühlen zu befreien.
"Nach den Fähren" von Thea Mengeler
Seit aus unerfindlichen Gründen keine Fähren mehr kommen, leben nur noch einige "Übriggebliebene" auf einer früher von Touristen überfluteten Insel irgendwo im Süden. Deren Geschichten von Verlassenheit und Sehnsucht in einer scheinbar geordneten Welt erzählt Thea Mengeler in atemberaubender Weise. Die junge Wahl-Hannoveranerin, die in Hildesheim und Kiel literarisches Schreiben studiert hat, konzentriert sich dabei sprachlich wie inhaltlich aufs absolut Wesentliche und erzeugt dadurch eine dröhnende Stille - auf der Insel und in uns.
Barbara Kingsolver: "Demon Copperhead"
Die US-Amerikanerin Barbara Kingsolver hat Charles Dickens "David Copperfield" als Schablone für ihren neuesten Roman genommen. Protagonist Demon Copperhead wird früh mit dem Verlust der Eltern, mit Armut und Ausbeutung konfrontiert. Nur wächst er nicht im London des 19. Jahrhunderts, sondern im ländlichen Virginia in den 1990er- und 2000er-Jahren auf, einer Region mit reicher Natur, aber auch großen sozialen Problemen. Mitte März kommt Barbara Kingsolver im Rahmen der Reihe "Der Norden liest" nach Hamburg.
Maggie O'Farrell: "Hier muss es sein"
Claudette und Daniel leben mit ihren beiden Kindern in der Abgeschiedenheit Nordirlands. Dabei verteidigt Claudette ihr Haus auch schon mal mit der Flinte. Weil sie ein Geheimnis hütet, was in dem Roman aber schnell gelüftet wird. Aber auch ihr Ehemann trägt ein Geheimnis mit sich herum, das er vor seiner Frau verheimlicht. Welche Zukunft hat die Ehe der beiden dann noch?
Maggie O’Farrell ist in Großbritannien und Irland eine gefeierte Autorin, gewann 2020 mit ihrem Buch über Shakespeares Sohn den "Women's Prize for Fiction". "Hier muss es sein" erschien bereits 2016 im Original und erreicht noch nicht die literarische Qualität seiner Nachfolger. Es ist ein verschlungener Roman, von dem man aber trotzdem als Leser*in schnell eingenommen ist.
Michael Köhlmeier: "Das Philosophenschiff"
Philosophenschiffe - das ist die später entstandene Bezeichnung für jene Schiffe, mit denen die bolschewistische Sowjetunion unter Lenin 1922 missliebige Intellektuelle außer Landes brachte. Und auf so einem Schiff befindet sich die damals 14-jährige Anouk Perlemann-Jacob mit ihren Eltern. Fünf Tage liegt das Schiff auf offener See. Viele Jahre später - zu ihrem 100. Geburtstag - erzählt Anouk diese Geschichte einem Schriftsteller, der alles aufschreiben soll. Michael Köhlmeier bedient sich in diesem Roman des Genres der historischen Fiktion. Es geht um die Verunsicherung der Menschen an Bord, ein Treffen zweier Männer auf dem Schiff und um das Schreiben selbst. Köhlmeier gehört nicht nur zu den größten Erzählern der Gegenwart, sondern auch zu den verschmitztesten. So ist auch "Das Philosophenschiff" wieder äußerst gelungen.
Lene Albrecht: "Weiße Flecken"
Der neue Roman von Lene Albrecht entführt die Leserschaft nach Afrika, nach Togo, wo die Autorin für eine Weile gelebt hat. Ihre Protagonistin Ellen begibt sich aus Forschungszwecken dorthin. Ihr Themengebiet: Fluchtursachen und deren Verbindung mit der Geschichte deutscher Kolonialherrschaft. Wie sehr die deutsch-afrikanischen Beziehungen bis in die Gegenwart ragen, erzählen nicht nur die Menschen, denen sie begegnet. Ellen stößt auch in ihrer eigenen Biografie auf unerwartete Verbindungen. Lene Albrecht erweitert unseren Blick auf den afrikanischen Kontinent mit einer Sprache, die mit verblüffendem Wissen und großer Empathie mitreißt und schillert.
Bodo Kirchhoff: "Seit er sein Leben mit einem Tier teilt"
Ein gealterter Ex-Schauspieler lebt zurückgezogen mit seinem Hund am Gardasee, bekommt unvorhergesehen Besuch von einer jungen Reisebloggerin und verabredeten Besuch von einer Journalistin, die über sein Leben schreiben will. "Ich setze mich immer sehr stark mit der Gegenwart meines Alters oder mit dem Alter der Menschen, die mir nahestehen, auseinander", sagt der Autor. Gefühle kommen in der Geschichte ins Spiel: Sehnsüchte, Irritationen, Enttäuschungen. Kirchhoff findet dafür eine poetische Sprache, die gelegentlich kitschig zu werden droht - aber wegen der großen Fragen des Lebens, der Liebe und des Alterns direkt ins Volle trifft.
Alina Herbing: "Tiere, vor denen man Angst haben muss"
Sieben Jahre nach ihrem erfolgreichen Debütroman "Niemand ist bei den Kälbern" legt Alina Herbing wieder einen neuen Roman vor. Die aus Lübeck stammende und in Mecklenburg-Vorpommern aufgewachsene Autorin nutzt zweifellos Elemente ihrer eigenen Biografie, wenn sie von einer Familie erzählt, die nach der Wende in ein mecklenburgisches Dorf zieht. Die Mutter versucht, sich auf einem maroden Bauernhof antikapitalistische Träume zu erfüllen; der Vater geht, die Söhne gehen, es bleiben die Töchter - und immer mehr Tiere bevölkern das Haus.
Dorothee Riese: "Wir sind hier für die Stille"
Dieser Debütroman verspricht viel, zuallererst: die Erkundung des Gefühls der Fremdheit mit allen Mitteln einer feinen Sprache. Dorothee Riese wurde 1989 bei Göttingen geboren, ist aber in Rumänien aufgewachsen; man könnte von einer "umgekehrten Migrationsgeschichte" sprechen. Sie wird hier literarisch entfaltet.
Ulrich Peltzer: "Der Ernst des Lebens"
Wo ist mein Platz in der Welt? Diese Frage treibt den vielfach ausgezeichneten Schriftsteller Ulrich Peltzer in beinahe all seinen Werken um. Sei es in seinem Debüt "Die Sünden der Faulheit" oder in seinem Roman "Das bessere Leben". Das im Titel seines neuen Romans wieder vom Leben, vom "Ernst des Lebens" die Rede ist, lässt Verbindungen erahnen. Der Protagonist im neuen Roman stammt jedenfalls auch, wie der Autor, vom Niederrhein und zieht dann nach Berlin, wo der Ernst des Lebens ihm sehr viele Facetten zu bieten hat.
Martin Becker: "Die Arbeiter"
Herkunft lässt einen nicht los. Das weiß auch der Schriftsteller und Radiomacher Martin Becker. Schon in früheren Romanen, etwa in "Marschmusik", hat er mit dem Malocher-Milieu, in dem er groß geworden ist, seine literarische Aufmerksamkeit gewidmet. Sein erfahrungsgesättigter klarer und scharfer Blick und sein manchmal abgründiger Humor prägen seinen Erzählstil. Es geht um ein Leben zwischen Fabrikhalle und Urlaub an der Nordsee, um den Traum vom Reihenhaus und einer besseren Zukunft für die Kinder, um das ganz normale Leben also.
Jane Gardam: "Gute Ratschläge"
Immer wieder kommen Werke der wunderbaren Engländerin auf Deutsch heraus. Diesmal ist es ein Briefroman aus dem Jahr 1991. Allerdings einseitig: Eliza, 51, schreibt Briefe an ihre Nachbarin Joan, die sie eigentlich kaum kennt, erteilt ihr "beste Ratschläge" und spricht dabei aus, was in der scheinheiligen postviktorianischen Gesellschaft nicht gesagt werden darf. Dabei spart sie nicht mit schlafwandlerisch gesetzten Seitenhieben und Exzentrik. Ein typischer Gardam, humorvoll und very british.
Jochen Schimmang: "Abschied von den Diskursteilnehmern"
Man darf gespannt sein, was passiert, wenn Jochen Schimmang, der große Lakoniker aus Ostfriesland, sich vornimmt, aus den Diskursfetzen der vergangenen Jahre ein neuartiges Wimmelbild zusammenzusetzen. Er denkt nach über die "Zeitenwende", Romananfänge, den Unterschied zwischen Mensch und Schildkröte und das allgemeine Gequatsche in unserer Zeit.
Kim Ho-Yeon: "Frau Yeoms kleiner Laden der großen Hoffnungen"
Ein kleiner Gemischtwarenladen in einem alten Stadtviertel von Seoul. Frau Yeom und ihr Team treffen hier täglich auf die verschiedensten Menschen. Da taucht der Obdachlose Dokgo auf und schafft es mit der Hilfe von Frau Yeom, sein Leben wieder in den Griff zu bekommen. Seine Anwesenheit gibt allen anderen die Kraft zu mutigen Entscheidungen und neuen Lebenswegen. Ein einfühlsamer, leicht erzählter Roman aus einer fernen Welt - fremd und uns doch so nah.
"Das Leben lesen": 10 Bücher über die wichtigsten Themen des Lebens
Neun wunderbare Autorinnen und ein Autor schreiben in einer Reihe des Hanser Literaturverlags über das, was das Leben ausmacht: Den Auftakt machen im Mai 2024 Elke Heidenreich über das "Altern" und Theresia Enzensberger über das "Schlafen". Es folgen im Herbst Svenja Flaßpöhler über das "Streiten" und Emilia Roig über das "Lieben". Die Essay-Reihe wird fortgesetzt mit Heike Geißler, Doris Dörrie, Daniel Schreiber, Karen Köhler, Daniela Dröscher und Felicitas Hoppe über "Arbeiten", "Wohnen", "Lesen", "Spielen", "Sprechen" und "Reisen".