Buchcover: Constanze Neumann - Das Jahr ohne Sommer © Ullstein Verlag
Buchcover: Constanze Neumann - Das Jahr ohne Sommer © Ullstein Verlag
Buchcover: Constanze Neumann - Das Jahr ohne Sommer © Ullstein Verlag
AUDIO: "Das Jahr ohne Sommer": Ein zarter, starker Roman (4 Min)

"Das Jahr ohne Sommer": Ein zarter, starker Roman

Stand: 19.03.2024 06:00 Uhr

In ihrem vorherigen Roman "Wellenflug" hat Constanze Neumann die Herkunftsgeschichte ihrer Familie erzählt. In ihrem neuen autobiografisch geprägten Roman geht es nun um die Geschichte ihrer Kindheit: "Das Jahr ohne Sommer".

von Annemarie Stoltenberg

Constanze Neumann erzählt von einer schweren Traumatisierung einer ganzen Familie durch den Staat, durch das politische System der DDR. Ihre hochbegabten, jungen, hoffnungsvollen Eltern glaubten, eine Möglichkeit gefunden zu haben, die Republik zu verlassen. Ein fataler Irrtum. Einer der beteiligten Fluchthelfer war in Bedrängnis geraten und hatte sie offenbar verraten, um die eigene Haut zu retten. Die Flucht misslingt, beide Eltern kommen ins Gefängnis.

Kindheit voller Abschiede

Der Großvater holt das kleine Mädchen ab und die nächsten Jahre wird sie hauptsächlich von der Großmutter betreut, geliebt, großgezogen. Über den Freikauf politischer Häftlinge aus der DDR in den 1970er-Jahren kommen die Eltern des Mädchens in den Westen. Es bedeutet einen weiteren schmerzhaften Abschied für das Kind. Sie muss die Großmutter verlassen und ihre Heimat. Das Kind zieht mit den Eltern nach Aachen. Sie erinnert sich, wie es war, wenn in der neuen Umgebung die Eltern am Abend ausgingen:

Kaum war die Tür ins Schloss gefallen, fiel ich aus beiden Welten, nichts war mehr übrig, es war alles leer und ich allein. Draußen wurde es dunkel, und ich lief durch alle Zimmer, um zu kontrollieren, ob die Dinge noch da waren: die Möbel, das Meissner Porzellan, das meine Eltern mit viel Mühe aus der DDR gerettet hatten, die Geige meiner Mutter, ihr Schmuck, ihre Unterwäsche und die Strumpfhosen. … Manchmal weinte ich, manchmal schlief ich ein, bevor meine Eltern zurückkamen … Leseprobe

Die Last der Gefangenschaft bleibt

Der Vater findet eine gute neue Stelle, aber die Mutter des Kindes ist durch die Zeit im Gefängnis körperlich und seelisch beschädigt. Eine sensible, schöne Frau, die danach nicht mehr so souverän mit ihrer Geige verzaubern kann wie früher.

Von Jahr zu Jahr wog die Last schwerer, die Last aller Möglichkeiten um den Preis der Flucht, den meine Eltern im Gefängnis bezahlt hatten. Meine Mutter bezahlte ihn immer noch, sie war nicht glücklich, auch wenn mein Vater dagegen anredete, ein Unglück, das es nicht geben durfte und das deshalb auch nicht da war.

Ohne Pathos und Selbstmitleid

Constanze Neumann erzählt diese Geschichte, die von Heimatverlust und tiefer Einsamkeit künstlerischer Persönlichkeiten handelt, ohne jedes Pathos, ohne auch nur den Anflug von Selbstmitleid.

Meine Großmütter und mein Großvater waren inzwischen verstorben, überhaupt war keiner mehr da, der sich an die zwei Jahre erinnerte, die ich bei meinen Großeltern verbracht hatte, an das Heim in Gera, in dem ich als Schmetterling verkleidet geweint hatte, an die Sommernachmittage im Garten oder die Wanderungen in Thüringen. Auch mein Vater starb, und mit ihm verschwanden die endlosen Gespräche über Leipziger Straßen, das Reiß-dich-zusammen, die Chopin-Etüde, die er auf seinem Flügel gespielt hatte. Immer noch stäubte ich Puderzucker auf zuckrigen Stollen und erzählte meiner Tochter, die nach seinem Tod zur Welt kam, wie gern ihr Opa Mohnkuchen und ungarische Salami gegessen hatte. Und wie lieb er sie gehabt hätte. Orte und Menschen, viel Arbeit, Lieben, die ins Nirgendwo führten - bis mein Herz nicht mehr mitmachte. Es kam aus dem Takt, es suchte sich einen eigenen, unregelmäßigen, und manchmal stand es still. Dann wurde ich ohnmächtig, und es wäre leicht gewesen, nicht zurückzukehren. Ich versuchte weiterzumachen, weil ich immer weitermachte…

Es sind berührende Liebeserklärungen im Text versteckt, an die Großmutter, den Vater und vor allem die Mutter, die tapfer versucht, sich aus dem Geflecht aus Scham und Schuldgefühlen zu befreien. "Das Jahr ohne Sommer" ist ein ebenso zarter wie starker Roman.

Das Jahr ohne Sommer

von Constanze Neumann
Seitenzahl:
192 Seiten
Genre:
Roman
Verlag:
Ullstein Verlag
Bestellnummer:
978-3-550 2022 92
Preis:
22 €

Dieses Thema im Programm:

NDR Kultur | Der Morgen | 19.03.2024 | 07:20 Uhr

Schlagwörter zu diesem Artikel

Romane

Ein Latte Macchiato, eine Brille und eine Kerze liegen auf einem Buch © picture alliance / Zoonar | Oleksandr Latkun

Neue Bücher 2024: Die spannendsten Neuerscheinungen

Unter anderem gibt es Neues von Dana von Suffrin, Michael Köhlmeier und Bernardine Evaristo. mehr

Logo vom NDR Kultur Podcast "eat.READ.sleep" © NDR Foto: Sinje Hasheider

eat.READ.sleep. Bücher für dich

Lieblingsbücher, Neuerscheinungen, Bestseller – wir geben Tipps und Orientierung. Außerdem: Interviews mit Büchermenschen, Fun Facts und eine literarische Vorspeise. mehr

Der Arm einer Frau bedient einen Laptop, der auf einem Tisch in einem Garten steht, während die andere Hand einen Becher hält. © picture alliance / Westend61 | Svetlana Karner

Abonnieren Sie den NDR Kultur Newsletter

NDR Kultur informiert alle Kulturinteressierten mit einem E-Mail-Newsletter über herausragende Sendungen, Veranstaltungen und die Angebote der Kulturpartner. Melden Sie sich hier an! mehr

NDR Kultur App Bewerbung

Die NDR Kultur App - kostenlos im Store!

NDR Kultur können Sie jetzt immer bei sich haben - Livestream, exklusive Gewinnspiele und der direkte Draht ins Studio mit dem Messenger. mehr

Mehr Kultur

Die Hamburger Kunsthalle bei Nacht. © Museumsdienst Hamburg, Thorsten Baering

Lange Nacht der Museen: Ein Abend von Ahh! bis Ohh!

Heute Abend findet wieder die Lange Nacht der Museen in Hamburg statt. 53 Ausstellungshäuser laden zu später Stunde. mehr