"'Nichts ist gut in Afghanistan' gilt heute noch viel mehr"
"Nichts ist gut in Afghanistan." Mit dieser Aussage wirbelte die damalige EKD-Ratsvorsitzende Margot Käßmann in ihrer Neujahrspredigt 2010 viel Staub auf. Wie sieht sie die derzeitige Entwicklung im Land?
Durch den eiligen Abzug der Nato-Truppen wurde der nach den Anschlägen vom 11. September 2001 begonnene "Krieg gegen den Terror" jetzt abrupt beendet. Das Machtvakuum haben in Windeseile die Taliban gefüllt. Die Lage in Afghanistan wird als sehr dramatisch beschrieben.
Ziel der westlichen Militärintervention war es, den Menschen in Afghanistan, das jahrelang von den radikal-islamischen Taliban ins Mittelalter tyrannisiert worden war und als Rückzugsort der Terrororganisation Al Qaida galt, zu mehr Menschenrechten und Freiheiten zu verhelfen. Sehen Sie davon irgendetwas eingelöst?
Margot Käßmann: Zunächst muss ich sagen: Ich bin keine Afghanistan-Expertin, aber mir tut das entsetzlich leid. Diese Bilder verfolgen einen ja. Und all die feste Überzeugungen, dass die militärische Intervention diesem Land Frieden bringen könnte, die haben sich ja in Luft aufgelöst. Und die Lage ist für die Menschen dramatisch. Nichts ist gut in Afghanistan. Das gilt heute ja offensichtlich noch viel mehr als vor elf Jahren.
Hat also dieser ganze Einsatz, den Sie 2010 ja quasi auf der Hälfte schon kritisiert haben, nichts gebracht?
Käßmann: Ich weiß, dass manche sagen, dass dort gerade einige Frauen in relativer Freiheit aufgewachsen sind. Aber ein Land zu befrieden, bedeutet ja, die Menschen zu verstehen, die Kultur zu verstehen, sich hineinzudenken, von innen her das Land aufzubauen. Ich denke an die zivilen Friedenskräfte, die Fachkräfte entsenden in diese Länder, um zu versuchen, über Mediation, also Vermittlung, Frieden zu stiften. Für mich hat sich noch einmal bestätigt: Von außen, mit einer Militärintervention, ein Land in die Demokratie zu transponieren, das funktioniert offensichtlich nicht. Das haben wir auch im Irak gesehen und an anderen Orten.
Die, die da jetzt an der Macht sind, sagen, sie sind nicht die gleichen Taliban wie die in den 1990er-Jahren. Sollte man mit ihnen das Gespräch suchen?
Käßmann: Sie können sich vorstellen, dass ich nicht gerade eine Freundin von fundamentalistischen Islamisten bin. Weil die Unterdrückung von Frauen und die Nichteinhaltung der Menschenrechte natürlich grauenvoll sind. Aber als ich damals gesagt habe: Es wird nicht anders möglich sein, als mit diesen Menschen zu reden. Damals wurde das belächelt und es wurde gesagt: Frau Käßmann kann sich ja bei Kerzenlicht mit den Taliban in ein Zelt setzen und beten. Das war sehr zynisch. Mittlerweile verhandeln die Amerikaner seit Jahren in Doha mit den Taliban. Und auch jetzt wird verhandelt werden müssen. Das sind keine für mich sehr sympathischen Menschen. Aber um irgendwie auch die Ortskräfte auszufliegen, um irgendwie auch diesem Land eine Perspektive zu geben, wird es meines Erachtens keine andere Möglichkeit geben, das Gespräch zu suchen.
Es wäre ja auch zutiefst christlich, miteinander nach der Möglichkeit zu suchen, dort herauszukommen, oder?
Käßmann: Ich denke, christlich ist auch zu sagen, was meine Werte sind. Und die Freiheitswerte sind für mich sehr stark. Aber das kann dem Anderen nicht übergestülpt werden. Das Gespräch ist christlich, ja. Ich denke, Jesus hat versucht, mit allen in ein Gespräch zu kommen. Und Martin Luther King hat einmal gesagt, das Schwerste, was Jesus uns hinterlassen hat, ist das Gebot: Liebet eure Feinde. Das ist kaum erträglich in so einer Situation, das weiß ich sehr wohl. Aber ich sehe nicht, dass militärische Intervention eine Lösung bringt, sondern wahrscheinlich nur das Gespräch und der Aufbau der Zivilgesellschaft. Was wir von hier aus tun können, ist, die Frauengruppen und die Zivilgesellschaft dort zu stärken, damit die Kraft finden, in dieser entsetzlichen Situation ihre Stimme zu erheben.
Nun passiert im Grunde fast das Gegenteil gerade: Es wird zum Beispiel die Entwicklungshilfe eingefroren. Ein richtiger Weg, ein falscher Weg?
Käßmann: Ich halte das für schwierig, weil Entwicklungshilfe ist Hilfe für die Menschen vor Ort. Mir ist es immer wichtig gewesen, dass wir gerade auch als Kirchen nicht die Regierungsorganisationen stützen, sondern tatsächlich zivilgesellschaftliche Organisationen, die wir kennen, Menschen vor Ort, die sich engagieren. Und ich finde, dass muss weitergehen. Das sagen auch die Organisationen vor Ort, die ich kenne, und die sich beispielsweise für Kinder engagieren. Das heißt, wir dürfen jetzt nicht einfach sagen: Wir lassen Afghanistan fallen, das hat alles überhaupt nicht gebracht. Was wir stattdessen tun können ist, die Menschen im Land zu stärken. Und ich setze sehr stark auf die zivilen Kräfte.
Das Gespräch führte Jürgen Deppe.
