Eine alte Frau mit einer Krücke und Einkaufstrolley geht durch eine Fußgängerstraße. © picture alliance/dpa/dpa-Zentralbild/Jens Kalaene

Paritätischer: Armut in Deutschland auf Höchststand - MV gegen den Trend

Stand: 29.06.2022 11:23 Uhr

Noch nie gab es seit der Wiedervereinigung in Deutschland mehr Armut als im Jahr 2021. Das meldet der Paritätische Wohlfahrtsverband in seinem aktuellen Armutsbericht. Gegen den Bundestrend nahm die Armut in Mecklenburg-Vorpommern leicht ab.

Laut dem Bericht sind in Deutschland mit seinen rund 83 Millionen Einwohnern 13,8 Millionen Menschen von Armut betroffen. Das entspricht einem Höchststand von 16,6 Prozent. Die Corona-Pandemie habe den ohnehin gegebenen Armutstrend in Deutschland noch einmal massiv verschärft, heißt es im Armutsbericht des Paritätischen. Im vergangenen Jahr lag die Armutsquote bundesweit noch bei 16,1 Prozent. Sie war trotz der Pandemie nur leicht gestiegen - vermutlich wegen der damaligen Corona-Hilfen.

Paritätischer fordert gezielte Hilfen - Kritik an Entlastungspaketen

Jetzt hingegen seien die wirtschaftlichen Auswirkungen der Pandemie sowie die stark steigenden Lebenshaltungskosten voll durchgeschlagen und träfen die Schwächsten, erklärte der Hauptgeschäftsführer des Verbandes, Ulrich Schneider. Er forderte gezielte Hilfen für die Betroffenen und kritisierte die Entlastungspakete der Ampel-Regierung als ungerecht. Er habe kein Verständnis dafür, dass Unterstützung auch dort geleistet werde, wo sie überhaupt nicht gebraucht werde, so Schneider. Nur zwei Milliarden Euro des insgesamt 29 Milliarden Euro schweren Entlastungspakets seien gezielte Hilfen.

Vor allem Selbstständige sind während der Pandemie in Armut gerutscht

Auffällig sei der ungewöhnliche Zuwachs der Armut unter Erwerbstätigen, insbesondere unter Selbstständigen, die im Zuge der Pandemie vielfach finanzielle Einbußen erlitten hatten. Die Armutsquote sprang in diesem Segment während der Pandemie von 9 auf 13,1 Prozent. Armutshöchststände verzeichneten im Vorjahr aber auch Rentner (knapp 18 Prozent) sowie Kinder und Jugendliche (rund 21 Prozent).

Leichter Abbau der Armut in Mecklenburg-Vorpommern

Im Ländervergleich konnte Mecklenburg-Vorpommern seine Armut leicht abbauen, von knapp 19,8 auf 18,1 Prozent und gilt im Ranking als Bundesland mit der zehnthöchsten Armutsquote. Im Vorjahresbericht lag der Nordosten noch auf Rang 13. Der Rostocker Armutsforscher André Knabe begründete die Entwicklung bei NDR MV Live damit, dass die Fallhöhe in Mecklenburg-Vorpommern von vornherein niedriger war. Hierzulande sei die Armutsquote schon immer verhältnismäßig hoch gewesen. "Die anderen Bundesländer haben sich jetzt quasi an das Niveau angepasst, daher steht MV gerade relativ gut da", so Knabe. Regional gibt es allerdings große Unterschiede. Bundesweit ist Problemregion Nummer eins aktuell das Ruhrgebiet, wo mehr als jeder Fünfte in Armut lebt. Schlusslicht des Rankings bleibt Bremen (28 Prozent). Am wenigsten von Armut betroffen ist laut Bericht Bayern mit 12,6 Prozent.

Als arm gilt, wer weniger als 60 Prozent des mittleren Einkommens zur Verfügung hat

Die Berechnungen des Verbandes beruhen auf Daten des Statistischen Bundesamts. Die Armutsquote gibt Auskunft darüber, wie viele Personen mit ihrem gesamten Nettoeinkommen weniger als 60 Prozent des mittleren Einkommens zur Verfügung haben. In der Regel verfügen sie über keine Rücklagen, kommen durch unvorhergesehene Ausgaben in Not und können sich Extras wie Kino, Urlaub oder Hobbys nicht leisten, wodurch sie und ihre Kinder vom normalen Leben abgehängt werden.

Definition: Relative Einkommensarmut

Das Statistische Bundesamt und auch dieser Armutsbericht folgen einer bereits fast 40 Jahre alten EU-Konvention, was die Definition und die Berechnung von Armut anbelangt. In Abkehr von einem sogenannten absoluten Armutsbegriff, der Armut an existenziellen Notlagen wie Obdachlosigkeit oder Nahrungsmangel festmacht, ist der Armutsbegriff der EU ein relativer. Arm sind demnach alle, die über so geringe Mittel verfügen, "dass sie von der Lebensweise ausgeschlossen sind, die in dem Mitgliedstaat, in dem sie leben, als Minimum annehmbar ist", wie es im entsprechenden Kommissionsbericht heißt.
Dieser EU-Konvention folgend zählt dieser Bericht jede Person als einkommensarm, die mit ihrem Einkommen unter 60 Prozent des mittleren Einkommens liegt. Dabei handelt es sich um das gesamte Nettoeinkommen des Haushaltes inklusive Wohngeld, Kindergeld, Kinderzuschlag, anderer Transferleistungen oder sonstiger Zuwendungen.
In Mecklenburg-Vorpommern gilt jemand als arm, wenn er als Einzelperson weniger als 1.100 Euro zur Verfügung hat und bei 4 Personen-Haushalten 2.400 Euro.

(Quelle: Der Paritätische, Armutsforscher Dr. André Knabe)

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Dieses Thema im Programm:

NDR 1 Radio MV | 29.06.2022 | 12:00 Uhr

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