Ein Mann und ein Junge kochen zusammen. © NDR Foto: Helene Buscholz

Was macht Alkohol in der Schwangerschaft mit dem Kind?

Stand: 09.09.2022 09:33 Uhr

Am 9. September ist der Tag des alkoholgeschädigten Kindes. Wie viel ein paar Schlucke Alkohol in der Schwangerschaft anrichten können, zeigt sich bei einem Besuch in einer Familie aus Hannover.

von Helene Buchholz

Die neun soll für die Zeit stehen, die das Kind im Bauch der Mutter ist, bevor es auf die Welt kommt. Wenn die aber während der Schwangerschaft Alkohol trinkt, ist es sehr wahrscheinlich, dass das Kind dadurch geschädigt wird. FASD heißt diese Störung (Fetale Alkoholspektrum-Störungen, englisch: Fetal Alcohol Spectrum Disorders). FASD zählt zu den häufigsten angeborenen Behinderungen in Deutschland. Da vor allem biologische Mütter mit Scham und Stigmatisierung zu kämpfen haben, ist die Krankheit und das Reden darüber noch weitgehend tabuisiert.

Alltägliche Dinge fallen den Kindern schwer

Ein Junge mit Kochmütze rührt mit einem Kochlöffel in einer Pfanne mit Rührei und schaut in die Kamera. © NDR Foto: Helene Buscholz
Eins nach dem anderen: Wenn Arnas kocht, muss er seine Aufmerksamkeit auf dem halten, was er gerade tut.

Alexander Budde und Agnes Bührig haben vor rund zehn Jahren zwei Kinder mit FASD adoptiert. Heute wollen sie darüber aufklären. Ihr jüngerer Sohn Arnas ist 13 Jahre alt. Lesen fällt ihm schwer. Arnas hat eine geistige Behinderung, ist deutlich kleiner als Gleichaltrige und hat Schwierigkeiten, seinen Alltag allein zu bewältigen. "Für uns ist es immer wieder ganz wichtig, sich klarzumachen, was wir alles im Autopilot haben", sagt sein Vater Alexander. Sei es, den richtigen Druck auf ein Messer auszuüben, damit es richtig schneidet, im Winter den Reißverschluss der Jacke aufzukriegen oder eine Dose zu öffnen - das alles sind komplexe Vorgänge, die für Menschen mit FASD eine Herausforderung sein können.

Arnas kann sich schwer auf mehrere Dinge konzentrieren

"Also beim Messer muss ich richtig konzentriert sein", sagt Arnas. Wenn jemand kommt, während er beim Kochen zum Beispiel gerade den Fisch schneidet und ihn anspricht, muss er sich ganz bewusst davon abgrenzen: "Dann kann man sagen: 'Nein, gleich, ich hab kurz was zu tun.' Du musst mal erst mal die eine Sache machen. Also erst mal den Fisch schneiden. Und dann kann man die anderen Sachen machen."

Betroffene trauen sich oft nicht, Hilfe in Anspruch zu nehmen

Die Krankheit FASD ist komplex: Nicht alle Kinder sind gleichermaßen betroffen, nicht bei allen kann es klar diagnostiziert werden. Aber sie alle haben Schwierigkeiten, ihr Leben selbstständig zu gestalten. Und obwohl laut Ärzteblatt pro 10.000 Kinder 177 mit FASD geboren werden, wird noch wenig darüber gesprochen. Unklar ist, wie hoch die Dunkelziffer ist. Denn die Scham bei den biologischen Müttern ist groß und die Krankheit nicht immer leicht zu diagnostizieren. So können die Betroffenen nicht die Unterstützung bekommen, die sie bräuchten. Auch Lehrerinnen und Lehrer sollten besser sensibilisiert dafür sein, was Hinweise auf FASD sein könnten, findet Alexander Budde.

Kein Ankommen auf dem Arbeitsmarkt

Der Vater und Arnas kochen oft zusammen. Das macht nicht nur Spaß, sondern dient auch der Berufsbildung. Denn die meisten von FASD Betroffenen werden nie auf dem regulären Arbeitsmarkt ankommen. Aber in der Gastronomie gibt es inzwischen die Möglichkeit, in integrativen Betrieben zu arbeiten.

Mutter: "Bei keinem Kind weißt du, was drin steckt"

Alexander Buddes und Agnes Bührigs älterer Sohn ist inzwischen 17 Jahre alt, vier Jahre älter als Arnas. Sie wussten, dass die beiden FASD haben. Was das bedeutet, hätten sie allerdings nicht geahnt. Und trotzdem betont die Mutter: "Bei keinem Kind weißt du, was drin steckt. Wenn du ein biologisches Kind bekommst - wir haben im Bekanntenkreis zwei Fälle von Autismus. Da weißt du auch nicht was drin steckt. Wir möchten auch gar nicht klagen. Wir haben eine recht intensive Situation, das alles zu schaffen. Aber wir lieben unsere Kinder natürlich wie alle Eltern herzlich und innig und würden sie nicht missen wollen."

"Eine zu 100 Prozent vermeidbare Behinderung"

Zum Tag des alkoholgeschädigten Kindes will Bührig auf die Krankheit aufmerksam machen. Und werdende Mütter warnen: "Ich finde es wichtig, zu sagen: Das ist eine Behinderung, die 100 Prozent vermeidbar ist. Natürlich passiert das nicht, weil die Mütter das bewusst machen. Aber ich finde es wichtig, mal zu zeigen, was das beinhaltet. Weil man immer sagt: Ein kleines Schlückchen in der Schwangerschaft geht ja noch. Aber was das bedeutet … Es ist schade, dass nicht klar ist, wie viel Behinderung das hervorruft."

Wenige Schlucke Alkohol reichen aus

Das bestätigt auch der Verein FASD-Deutschland mit Sitz im emsländischen Lingen: Bereits wenige Schlucke während der Schwangerschaft könnten schwerwiegende Folgen für das Kind haben, heißt es. Je nach der Entwicklungsphase des Kindes im Mutterleib sind unterschiedliche Zell- und Organbereiche betroffen.

Arnas hat seine Krankheit verstanden und einen guten Umgang damit gefunden. Denn er weiß, auch wenn ein Tag schlecht startet, wird es auch immer wieder besser: "Also manchmal werde ich sauer, weil alles verwirrend ist und so. Und dann gehe ich mit böser Stimme in die Schule. Und dann sagt die Betreuerin: 'Äh, ist alles gut?' Und dann sage ich nur: 'Heute war ein schlechter Tag. Am Anfang war er ein schlechter Tag.' Aber am Nachmittag wird es dann wieder gemütlicher."

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NDR Info | Aktuell | 10.09.2022 | 07:48 Uhr

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Ein Smartphone mit einem eingeblendeten NDR Screenshot (Montage) © Colourbox Foto: Blackzheep

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