Flucht aus Kabul: "Ich habe noch nie so viele Tote gesehen"

Stand: 15.08.2022 05:00 Uhr

Heute vor einem Jahr übernahmen die Taliban die Macht in Afghanistan. Tags darauf startete die Bundeswehr eine überhastete Luftbrücke, holte in elf Tagen 5.300 Menschen aus dem Land. Viele ehemalige Helfer blieben zurück - darunter Osman Azimi, der inzwischen in Niedersachsen lebt.

von Marcus Engert und Christoph Heinzle

Er hat es nicht einmal versucht. Oder zweimal. Er hat es 13 Mal versucht. "Tag und Nacht, aber wir kamen einfach nicht zum Tor. Überall waren Menschen." Osman Azimi war dabei: An jenen Tagen im August 2021, als sich die Republik Afghanistan binnen weniger Tage in das Islamische Emirat Afghanistan verwandelte. Als die Taliban Kabul einnahmen. Und als Zigtausende versuchten, durch eines der Tore auf das Flughafengelände und in eine der Maschinen zu gelangen, die Menschen aus dem Land flogen. Sechs Jahre lang, von 2007 bis 2013, hat Azimi für das deutsche Polizeiprojekt in Masar-i-Scharif als Übersetzer gearbeitet. Dafür bekam er Drohanrufe, wurde sogar gekidnappt, erzählt er.

Tausende machen sich auf den Weg zum Flughafen

Als die Taliban eine Provinz nach der anderen einnehmen und im August 2021 überraschend schnell auch Kabul, sagt Azimi zu seiner Frau: "Jetzt müssen wir kämpfen. Ich muss raus aus Afghanistan, die Taliban töten mich sonst, ich weiß es. Ich habe mich einfach nicht mehr sicher gefühlt." Der damals 33-Jährige will raus, bevor etwas schiefgeht. Mit seiner Frau und seinen drei Kindern - dem erst zwei Monate alten Sohn und den beiden Töchtern, fünf und acht Jahre alt - macht er sich auf den Weg zum Flughafen in Kabul. Wie Tausende andere auch.

Bundeswehr startet hochriskanten Einsatz

7.000 Kilometer entfernt steht Nick mit seiner Frau in einem Möbelhaus. Auf seinem Telefon liest er von den Ereignissen in Afghanistan. "Da hab' ich zu meiner Frau gesagt: 'Eigentlich ist das unser Auftrag. Warum macht die Luftwaffe das alleine?'" Nick heißt eigentlich anders. Er ist Rettungszugführer bei den Fallschirmjägern der Bundeswehr, stationiert in Seedorf in Niedersachsen. "Mir war da schon klar, dass es jeden Moment losgehen kann", sagt er.

Jens Arlt © Screenshot
Einsatzleiter Arlt: "Ich kann nicht garantieren, dass wir alle zurückkommen."

Nur wenig später stehen Nick und weitere Soldaten vor dem Chef ihrer Afghanistan-Mission, General Jens Arlt. Und der nimmt kein Blatt vor den Mund: "Ich weiß nicht, was uns erwartet. Wir müssen mit allem rechnen. Ich kann nicht garantieren, dass wir alle zurückkommen." Zwei Bundeswehr-Maschinen machen sich von Wunstorf aus auf den Weg nach Kabul. Ihr Auftrag: Deutsche rausholen, besonders gefährdete Afghaninnen und Afghanen sowie jene Ortskräfte, die ihnen 20 Jahre lang geholfen haben. Menschen wie Osman Azimi.

"Kampflandung": Mehrere Reifen des A400M platzen

Eine A400 der Bundeswehr auf dem Flughafen von Taschkent, Usbekistan. © Bundeswehr
Die beiden Frachtmaschinen der Bundeswehr pendelten während der Luftbrücke zwischen Kabul und dem usbekischen Taschkent.

Die beiden Maschinen fliegen auf Verdacht los. Ob sie in Kabul werden landen können, ist zu diesem Zeitpunkt vollkommen unklar. Die erste Maschine schafft es nicht, die zweite aber hat Glück: "Wir mussten kreisen, weil die Landebahn immer noch nicht geräumt war, konnten es dann aber in den letzten Minuten, bevor uns der Treibstoff für den Weiterflug nach Taschkent ausgegangen wäre, doch noch schaffen, eine sogenannte Kampflandung durchzuführen. Dabei sind auch mehrere Reifen des A400M geplatzt", erinnert sich einer der Offiziere.

Nach Auskunft des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge sind seit dem NATO-Abzug bis Anfang August 2022 einschließlich der Familien mehr als 17.000 afghanische Ortskräfte nach Deutschland eingereist. Bis heute diskutiert Deutschland, ob man mehr Helfer hätte retten müssen. Menschen wie Azimi, ohne die das Engagement westlicher Staaten in Afghanistan niemals möglich gewesen wäre.

Am 15. August überschlagen sich die Ereignisse in Afghanistan

Noch im Juli 2021 geben die Geheimdienste Entwarnung. Sie liegen falsch. Am 15. August überschlagen sich die Ereignisse. Die Taliban nehmen erst Kabul ein, dann den Präsidentenpalast. Auf Widerstand treffen sie nicht mehr. NDR und WDR liegen vertrauliche Dokumente aus dem Krisenstab der Bundesregierung vor. Dort heißt es: "Lage in Kabul ist dramatisch. Präsident Ghani hat das Land bereits verlassen."

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Azimi wird abgewiesen: "Wir können euch nicht retten"

Doch wie Tausende andere auch steht Osman Azimi mit seiner Familie erst mal vor den verschlossenen Toren des Flughafens. Er hat E-Mails dabei, Arbeitsverträge, etliche Belege, die seine Arbeit für die Deutschen dokumentieren. Aber: kein Nachweis, dass er auf der Liste derer steht, die rausgeholt werden sollen. Reportern von NDR und WDR erzählt Azimi von seiner Begegnung mit einem deutschen Offizier am Flughafen, der ihn weggeschickt habe: "Er schaute sich meine Papiere an, gab sie mir zurück und sagte: 'Ihr solltet zurückgehen.' Ich fragte: 'Warum?' Er antwortete: 'Wir können euch nicht retten.'" Nachprüfbar ist das nicht, es muss in diesen Tagen unzählige dieser Szenen gegeben haben.

Inmitten der Wartenden am Flughafen explodiert eine Bombe

Von Beginn der Evakuierungsmission an ist klar: Die Uhr tickt. Doch am 26. August tickt sie anders. "Wir wussten an dem Tag, es wird etwas passieren. Wir wussten nur nicht, wo", sagt General Arlt. Als am Flughafentor inmitten der Menschenmenge eine Bombe explodiert, steht Azimi mit seiner Frau und seinen Kindern nur ein paar Hundert Meter entfernt. In einem Handy-Video hat er die Szenerie aufgenommen, heute kann er es kaum ansehen. Blutende Menschen überall. Tote, die mit dem Kopf nach unten in einem Wassergraben schwimmen. Schreiende Kinder. "Ich habe noch nie so viele Tote gesehen. Es war, wie wenn ein Lkw mit Äpfeln umfällt. So lagen die toten Körper übereinander", sagt der 34-Jährige. Ein Selbstmordattentäter des Islamischen Staats hatte sich in die Luft gesprengt, mehr als hundert Menschen sterben, darunter 13 US-Soldaten.

Taliban suchen heute noch nach Ortskräften

Erst nach dem Ende der Evakuierungsmission, im November 2021, schafft Azimi es mit seiner Familie aus Afghanistan heraus. Er hofft, bald auch seine Mutter nach Deutschland holen zu können. Regelmäßig sprechen sie per Videoanruf miteinander. Ihren Job als Ingenieurin hat die 63-Jährige nach der Machtübernahme der Taliban verloren. Das Leben sei eintönig, erzählt seine Mutter, und der Alltag bedrückend: "Weil du jetzt nicht hier bist, fühlen wir uns bedroht. Einige Taliban fragen uns immer nach dir. Sie fragen, wo du bleibst und was du machst, weil du damals mit Ausländern gearbeitet hast."

Schwieriger Neustart der Familie in Deutschland

Mittlerweile lebt Osman Azimi mit seinen drei Kindern und seiner Frau im niedersächsischen Lehrte, nach einer Zwischenstation nahe Bremen. Die Azimis versuchen, ein neues Leben zu beginnen. Doch die Umgewöhnung nach Flucht und erneutem Umzug ist nicht einfach.

Zainab Azimi sitzt im Klassenzimmer ihrer Grundschule in Lehrte. © Screenshot
Zainab Azimi in der Grundschule in Lehrte: Noch tut sie sich schwer.

"Ich habe das Gefühl, sie ist noch nicht gut angekommen", sagt Ulrike Page-Gear, die Klassenlehrerin von Osmans Tochter Zainab in der ersten Klasse. "Es dauert. Es wird dauern. Sie kommt auch manchmal und nimmt mich einfach in den Arm. Und dann merke ich auch, sie braucht das jetzt. Dass ihr mal jemand über den Rücken streichelt und einfach sagt: 'Ja, alles okay, du bist hier sicher.' Es wird langsam mehr. Aber es ist alles langsam und es wird schwierig."

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NDR Info | NDR Info | 10.08.2022 | 14:00 Uhr

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